REUTLINGEN/CALW. Am 7. Dezember 2022, in den frühen Morgenstunden, schlagen die Spezialeinheiten der Polizei zu. Im Auftrag des Generalbundesanwalts nehmen sie in ganz Deutschland mutmaßliche Mitglieder einer »Reichsbürger«-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß fest. Der Vorwurf: Sie haben eine terroristische Vereinigung gegründet, mit dem Ziel, gewaltsam die Regierung zu stürzen.
Unter den Festgenommenen sind eine frühere AfD-Bundestagsabgeordnete, Ex-Polizisten, ein Heilpraktiker. Doch auch Ex-Soldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK) und ein aktiver KSK-Soldat sind darunter. Mehrere Spuren führen in den Südwesten Deutschlands. In Untersuchungshaft sitzt auch einer, der hier eine lange Vergangenheit hat: Rüdiger von Pescatore.
Als der WDR-Investigativjournalist Martin Kaul diesen Namen hört, klingelt bei ihm etwas. Kaul beschäftigt sich schon länger mit dem KSK und dortigen rechtsextremen Vorfällen. Ihn beschäftigt, warum es immer wieder dazu kommt. Er unterhält sich mit einem früheren KSK-Soldat. Der sagt zu Kaul, wer das Problem verstehen wolle, müsse sich die Anfangszeit des KSK anschauen und nennt einen Namen: Rüdiger von Pescatore. Kaul recherchiert für seinen Podcast »Deep State« zwei Jahre, um herauszufinden, wer Pescatore ist, der immerhin als Anführer des bewaffneten Arms der Reuß-Gruppe gilt.
Wer ist Rüdiger von Pescatore?
Pescatore war Anfang der Neunziger als Offizier der Bundeswehr in Nagold und Calw stationiert. Er kommandierte das Fallschirmjägerbataillon 251, aus dem 1996 das KSK hervorging. Von dem ist Pescatore selbst nie Teil. Später wird er unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassen. Laut Urteil sind unter Pescatore alte NVA-Waffen, darunter Pistolen vom Typ Makarow, verschwunden. Pescatore war bei der Bundeswehr zuvor auch dafür verantwortlich, Soldaten an diesen Waffen auszubilden.
Kaul begibt sich auf Spurensuche, landet in Sommenhardt. Hier hat Pescatore früher gewohnt. Eine Nachbarin erinnert sich, dass der einmal in der Mittagspause mit dem Militärhubschrauber in der Nähe gelandet sei. Um mit seiner Frau Kaffee zu trinken. Nach seiner Verurteilung verlässt er Deutschland Richtung Brasilien. Was dort mit ihm passiert ist, hat Kaul vor Ort recherchiert und versucht es, im Podcast nachzuzeichnen. Denn als Pescatore zurückkehrt, soll er offenbar begonnen habe, aus Neustetten-Nellingsheim bei Rottenburg im Kreis Tübingen, den Umsturz zu planen – so skizziert es die Anklage. Gemeinsam mit einem aktiven KSK-Soldaten überlegt Pescatore demnach, welche Kompanien sie dafür aufstellen können, spähen offenbar sogar Kasernen aus.
Was ist auf dem Tonband der Reutlinger Razzia zu hören?
Im März 2023 gibt es eine weitere Razzia. Die Polizei durchsucht Objekte in acht Bundesländern. In Reutlingen wollen sie die Wohnung eines mutmaßlichen Mitglieds der Reuß-Gruppe betreten. Doch der Mann hat sich verschanzt, schießt auf die Polizisten, trifft einen von ihnen am Arm. Auch in Reutlingen recherchiert Kaul, besucht das Haus. Er redet mit einem Nachbarn, der damals alles aus seiner Wohnung heraus gefilmt hat. Die Tonaufnahmen davon sind im Podcast nun erstmals zu hören. Und sie zeigen eindrücklich, zu was die Radikalisierung der »Reichsbürger« führen kann.
Warum ist die Region Reichsbürger-Hotspot?
In Kauls Podcast fällt auf: Viele der Beteiligten leben in Baden-Württemberg. Doch woran liegt das? Am KSK? Kaul sagt, dass das KSK heute für das Thema Rechtsextremismus sensibilisiert sei. Früher sei das »Traditionsbewusstsein« dort groß gewesen. Man habe sich teils noch recht lang mit den Fallschirmjägern der Wehrmacht identifiziert. »Mein Eindruck ist, dass Pescatore seinerzeit diese Stimmung auch mit geprägt hat«, sagt Kaul. Das KSK versuche diese Prägung bis heute loszuwerden.
Kaul sieht weitere Gründe. In Baden-Württemberg gebe es schon lange eine Protestkultur. Das Land sei auch bei den Corona-Protesten ein Zentrum gewesen. Und hier gebe es eine Szene, die offen für Verschwörungserzählungen wie QAnon ist.
»Der Irrationalismus wird von Demokratiefeinden, von feindlichen Staaten und wichtigen Akteuren der rechtsextremen Szene zum Programm erklärt«, sagt Kaul. Denn werde die Vernunft angegriffen und delegitimiert, würden irgendwann keine Regeln mehr gelten.
Wie gefährlich ist die Reuß-Gruppe?
Neben allen konkreten Vorbereitungen hatte die Reuß-Gruppe auch irrationale Vorstellungen. Für ihren Umsturz warteten sie offenbar auf einen Tag X, an dem wohl eine »Allianz« das Signal zum Losschlagen geben sollte. Das Signal kam nie, die Allianz gibt es nicht. Einer, der all das wohl glaubte, ist Maximilian E.. Der war lange beim KSK, trat während der Pandemie auf zahlreichen »Querdenken«-Demos auf, verbreitete dort Verschwörungserzählungen. Kaul gelang es, E. Für den Podcast in der Untersuchungshaft zu interviewen.
Besteht die Reuß-Gruppe also aus harmlosen Spinnern oder doch aus gefährlichen Terroristen, die rechtzeitig gestoppt wurden? Dieser Frage, die seit 2022 diskutiert wird, geht Kaul in seinem Podcast nach. Selbst beantworten, möchte er sie nicht: »Ich will den Hörern ermöglichen, sich selbst eine Meinung zu bilden«, sagt er. (dpa)
Information: Der Podcast »Deep State« von Martin Kaul ist in der ARD Audiothek (kostenlos) abrufbar. Er umfasst sechs Folgen.

