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Wieso Ärzte in der Region Cannabis verschreiben

Cannabis haftet das schlechte Image der illegalen Droge an. Doch medizinisches Cannabis darf bereits seit mehr als fünf Jahren als Heilmittel von Ärzten verschrieben werden. Einige Mediziner aus Reutlingen und der Region setzen es bereits erfolgreich ein. Diese Erfahrungen haben sie damit gemacht.

Bislang gibt es nur eine Firma, die in Deutschland medizinisches Cannabis produziert. Foto: picture alliance/dpa
Bislang gibt es nur eine Firma, die in Deutschland medizinisches Cannabis produziert.
Foto: picture alliance/dpa

REUTLINGEN/TÜBINGEN/MÜNSINGEN. Seit mehr als fünf Jahren ist es Ärzten in Deutschland erlaubt, ihren Patienten medizinisches Cannabis zu verschreiben. Ein Leser will vom GEA wissen, wie Mediziner in Reutlingen und der Region damit umgehen. In Kürze: Sie setzen es ein, unter anderem bei chronischen Schmerzen, Muskelkrämpfen, Epilepsie, bei Krebspatienten oder bei der Nachbehandlung einer Chemotherapie - vor allem dann, wenn andere Medikamente und Therapien ohne Erfolg geblieben sind. 

Der Tübinger Arzt Dr. Richard Haumann hat vor seinem Ruhestand jahrelang medizinisches Cannabis verschrieben und sagt: »Es kann hervorragend funktionieren.« Als Beispiel aus seiner medizinischen Praxis nennt er einen Krebspatienten, dessen starke Schmerzen mit anderen Medikamenten nicht nachließen: »Der Patient hat das medizinische Cannabis auch als Wundermittel bezeichnet, weil seine Schmerzen gelindert wurden und er mehr Lebensqualität gewonnen hat«, so Haumann.

Auch bei einem Patienten, der unter der Nervenkrankheit Tourette-Syndrom litt, sei die Therapie mit Cannabis erfolgreich gewesen. Die Symptome, wie Zuckungen im Gesicht, hätten nachgelassen. »Mit dem medizinischen Cannabis waren die Therapien bei mir zu zwei Dritteln erfolgreich«, bilanziert Haumann. Es habe aber auch Patienten gegeben, bei denen es nicht funktioniert habe. 

Erfolgreicher Einsatz bei Krebspatienten oder Multipler Sklerose

Auch Hausarzt Dr. Manfred Eissler verschreibt in seiner Reutlinger Praxis medizinisches Cannabis. Erst vor Kurzem habe er positive Erfahrungen bei einer Patientin gemacht, die an Multipler Sklerose (MS) leidet. »Es hat bei ihr vor allem gegen Schmerzen, aber auch stimmungsaufhellend gewirkt«, berichtet er. Letzteres sei bei MS wichtig. Das Cannabis habe der Patientin so weit geholfen, dass sie es mittlerweile nicht mehr brauche. Dieser Fall belege, dass das Medikament offenbar doch nicht so abhängig mache, wie bisweilen befürchtet.

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Eissler hat unter anderen auch eine Patientin, die er wegen ihrer schweren chronischen Schmerzen durch eine Erkrankung ihrer Knochen mit Cannabis behandelt. »Bei ihr habe ich die Therapie gerade erst begonnen, ich hoffe natürlich, dass sie positiv verläuft und die Schmerzen nachlassen«, sagt er.  

Die Albklinik am Stadtrand von Münsingen.
Die Albklinik am Stadtrand von Münsingen. Foto: Manfred Grohe
Die Albklinik am Stadtrand von Münsingen.
Foto: Manfred Grohe

Die Schmerzklinik innerhalb der Albklinik in Münsingen setzt ebenfalls auf medizinisches Cannabis. Wenn alle anderen Optionen zur Schmerzbekämpfung ausgeschöpft seien, werde Cannabis in der Klinik eingesetzt, hieß es. Das gelte vor allem bei chronischen Schmerzen, Schlafstörungen und innerer Anspannung.

Zu den Erfahrungen mit Cannabis-Therapien äußerte sich der leitende Oberarzt der Schmerzklinik Münsingen, Dr. Alexander Tuczek, gegenüber dem GEA zurückhaltend: »Meiner Meinung nach ist bei wenigen ausgesuchten Patienten ein Therapieversuch sinnvoll, allerdings muss dieser kritisch begleitet werden und Cannabis darf dabei nicht überschätzt werden.«

Kontrollierter Anbau und Verarbeitung

Bis vor Kurzem gab es in Deutschland keinen einzigen Hersteller von medizinischem Cannabis. Mittlerweile gibt es eine deutsche Firma, die sich auf die Aufzucht und Verarbeitung von Cannabispflanzen spezialisiert hat. Zwei andere sind in kanadischer Hand. Produziert wird in Ostdeutschland und in Schleswig-Holstein. Insgesamt sollen sie bis 2026 etwa 10,4 Tonnen medizinisches Cannabis herstellen. Das deutsche Start-up-Unternehmen Demecan beliefert, wie ihre Mitbewerber, die Apotheken in Deutschland mit ihren Produkten. 

Demecan Cannabis-Zucht
Cornelius Maurer (l) und Adrian Fischer, Mitbegründer und Geschäftsführer des Pharmaunternehmens Demecan, inspizieren getrocknete medizinische Cannabisblüten. Foto: Sebastian Kahnert
Cornelius Maurer (l) und Adrian Fischer, Mitbegründer und Geschäftsführer des Pharmaunternehmens Demecan, inspizieren getrocknete medizinische Cannabisblüten.
Foto: Sebastian Kahnert

Medizinisches Cannabis gibt es als Tropfen, als Kapseln, als Tee und auch in getrockneter Form. Die getrockneten Blüten der Pflanze können dann als Aufguss, oder mittels eines Verdampfers von Patienten eingenommen - sprich - inhaliert werden.

Zwei Hauptbestandteile sind in Cannabis enthalten: Das Tetrahydrocannabiol (THC), welches rauschauslösend wirken kann, und das Cannabidiol (CBD), das keinen Rausch auslöst und beispielsweise in Nutzhanf enthalten ist.

Durch die professionelle Herstellung soll sichergestellt werden, dass die Wirkstoffe der Pflanze kontrolliert und in ganz bestimmter und festgelegter Dosierung im Endprodukt enthalten ist. Jede Blüte müsse denselben Gehalt der Substanz THC enthalten, damit Patienten nicht versehentlich zu viel oder zu wenig einnehmen, so das Unternehmen. Hier liegt auch der Hauptunterschied zu illegalen Cannabis-Produkten auf dem Schwarzmarkt. »Bei Cannabis von der Straße weiß niemand, was und wie viel drin ist und wie dann die Wirkung ist«, erklärt Dr. Manfred Eissler. 

»Deshalb haftet auch dem medizinischen Cannabis immer noch ein schlechtes Image an«, ist Dr. Richard Haumann überzeugt. Beide Ärzte vermuten darin auch den Hauptgrund für die hohen Hürden, die es zur Verschreibung des Produktes als Medizin immer noch zu überwinden gilt. Eissler sagt: »Das ist aufwendig, mit viel Papier und Bürokratie verbunden.« Tatsächlich müssen Ärzte, die ihren Patienten medizinisches Cannabis verschreiben wollen, ein mehrseitiges Gutachten erstellen. Darin müssen sie den Krankenkassen darlegen, dass aus medizinischer Sicht eine solche Therapie erforderlich ist. Dann entscheidet ein Gutachtergremium der jeweiligen Krankenkasse, ob sie dem zustimmt oder es ablehnt. »Das Misstrauen ist immer noch groß. Bisweilen wird es immer noch als Droge betrachtet«, weiß Richard Haumann aus Erfahrung.

Trotz immer noch bestehender Vorbehalte scheint medizinisches Cannabis auch in Deutschland auf dem Vormarsch zu sein. Experten gehen davon aus, dass Marktbeobachter sich beispielsweise an der Entwicklung in Kanada orientieren, wonach rein rechnerisch etwa ein Prozent der Bevölkerung für eine Behandlung mit Cannabis-Medizin infrage käme. Das wären in Deutschland also mehr als 840.000 Menschen. Heruntergerechnet auf Baden-Württemberg 110.000 und auf Reutlingen immerhin über 1.100 potenzielle Patienten. (GEA) 

Cannabis in der Medizin

Die Cannabispflanze war bereits seit der Spätantike in Europa bekannt. Verschiedene Ärzte, auch im Orient, empfahlen Cannabis in den unterschiedlichen Darreichungsformen (selbst als Umschlag oder Wadenwickel) als Mittel gegen diverse Leiden, wie beispielsweise eingewachsene Zehennägel, Verstopfung, Gicht, Malaria, Rheuma, Geistesabwesenheit oder Wurmbefall. Die bekannte Äbtissin Hildegard von Bingen empfahl es im Mittelalter gegen Magenschmerzen und Übelkeit.

Im 19. Jahrhundert fanden Cannabisbestandteile Eingang in das Schlafmittel Bromidia in den USA. Im 20. Jahrhundert wurden solche Mittel, auch wegen angeblich schwankender Wirkung und des Risikos paradoxer Wirkungen, sukzessive durch synthetische Medikamente ersetzt. 1961 wurde das Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel beschlossen, das bis heute die Grundlage der internationalen Drogenkontrolle bildet. Im März 2017 ist das Gesetz »Cannabis als Medizin« in Kraft getreten. 

Die am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) errichtete Cannabisagentur ist für den kontrollierten Anbau, die Ernte, die Verarbeitung, die Qualitätsprüfung, die Lagerung, die Verpackung und die Abgabe an Apotheken der medizinischen Cannabisblüten in Deutschland verantwortlich. (rr)