REUTLINGEN. Mit der Bundestagswahl werden viele Weichen gestellt: etwa in den Bereichen Wirtschaft und Migration, Wohlstand und Arbeit, Gesundheit, Sicherheit und Wohnungsbau. In diesem Beitrag kommen Behördenleiter und ganz unterschiedliche Interessenvertreter aus Reutlingen und dem Landkreis zu Wort: Was erwarten sie von einer neuen Regierung? Was sind ihrer Ansicht nach die drängendsten Probleme, denen sich die Politiker widmen sollten?
Christian O. Erbe, Präsident der IHK Reutlingen
»Regulierungen, Steuern, Energie, Fachkräfte und Infrastruktur. Die neue Regierung hat viel zu tun, weil sich die strukturelle Krise in diesem Land nur noch mit umfassenden Reformen und klaren Prioritäten ändern lassen wird. Wir haben allein in den letzten fünf Jahren 13.000 neue Gesetze und Verordnungen erlassen. Wie soll man das alles umsetzen? Unsere Straßen und Schienen sind verbraucht. Dennoch benötigen wir Jahrzehnte, um eine Ortsumgehung in Tübingen oder Reutlingen zu bauen. Die Energiepreise müssen sinken. Wenn Betriebe zum Teil das Vier- bis Fünffache ihrer ausländischen Konkurrenten für Strom zahlen müssen, sind sie oft nicht mehr wettbewerbsfähig. Dabei ist wichtig: Die Firmen brauchen das Signal, dass sich etwas zum Besseren ändern soll und kann. Wir stehen am Scheideweg: Gelingt uns das Comeback als starker Wirtschaftsstandort oder sind wir künftig nur noch Mittelmaß? Und wir brauchen keine Politik, die infrage stellt, dass wir eine Exportnation sind, dass wir Zuwanderung benötigen. Und wir sollten nicht anfangen, Windräder abzureißen. Sie sind längst Teil unserer heimischen Energieversorgung.«
Thomas Keck, Oberbürgermeister von Reutlingen
»Ich wünsche mir eine Regierung, deren Entscheidungen auf der Basis demokratischer Grundwerte getroffen werden. Ich erwarte, dass Entscheidungen so getroffen werden, dass sie für die Menschen nachvollziehbar sind. Ehrlichkeit und Verlässlichkeit sind hier die maßgebenden Schlagworte. Die Bundesregierung hat die Kommunen durch Förderprogramme immer wieder unterstützt – auch wir in Reutlingen konnten durch das ZiZ-Programm (Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren) profitieren. Doch der Zugang zu diesen Mitteln ist oft aufwendig. Weniger föderalistische Strukturen und mehr direkte Bundesförderungen für Kommunen – ohne den Umweg über die Länder – wären hier eine sinnvolle Maßnahme. Es ist entscheidend, dass die neue Bundesregierung umgehend Rahmenbedingungen schafft, die den Kommunen langfristige Planungssicherheit und Gestaltungsspielraum ermöglichen. Insbesondere sollten finanzielle Auswirkungen neuer politischer Entscheidungen auf die Kommunen frühzeitig berücksichtigt und entsprechende Ausgleiche geschaffen werden.«
Dr. Ulrich Fiedler, Landrat im Kreis Reutlingen
"Als Landkreis schauen wir erwartungsvoll auf die Gesundheitspolitik. Sie wirkt sich wesentlich auf die Weiterentwicklung unserer Gesundheitsversorgung sowie der Kreiskliniken aus. Gerade in den Bereichen Gesundheit und Pflege spüren wir stark den Fach- und Arbeitskräftemangel. Bildung und gezielte Migration sind hierbei wichtige Schlüssel.
Zudem müssen wir die Chancen der Digitalisierung in Wirtschaft und Verwaltung konsequenter nutzen. Die Basis dafür ist der flächendeckende Ausbau der digitalen Infrastruktur – und die Fortsetzung der Bundesförderung. All diese Bereiche müssen wir angehen, um eine starke und zukunftsfähige Wirtschaft zu fördern.
Zukunftsfähig bedeutet dabei auch, das Klima zu schützen und sich an die Folgen des Klimawandels anzupassen. Bei allen Entscheidungen, die in Berlin getroffen werden, müssen letztlich die Konsequenzen für die Kommunen bedacht werden. Ständig mehr Aufwand und höhere Kosten durch Bundesgesetze können wir als Landkreis nicht stemmen."
Reutlinger Wohlfahrtsverbände (AWO, Diakonie, Caritas und Parität)
"Wohnen ist die große soziale Frage – und ein echtes Armutsrisiko. Wir benötigen deshalb dringend bezahlbaren Wohnraum. Dazu braucht es eine zuverlässige und nachhaltige Förderung von sozialem, kommunalem und gemeinnützigem Wohnungsbau. Besonders in angespannten Wohnungsmärkten brauchen wir die Mietpreisbremse.
Für Menschen mit geringen Einkommen ist Teilhabe nur mit Unterstützung möglich. Deshalb muss die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel reduziert werden. Es braucht ein Klimageld als sozialen Ausgleich für gestiegene Energiepreise und kostenlosen ÖPNV.
Migration ist das Thema der Stunde. Politik muss gemeinsam mit der Zivilgesellschaft Lösungen entwickeln, die sich an den Menschenrechten orientieren. Damit Pflege auch in Zukunft gelingt, benötigen wir für unsere sozialen Einrichtungen dringend Fachkräfte aus dem Ausland. Außerdem muss die Pflegeversicherung insgesamt und zugunsten der pflegenden Familien reformiert werden.
Abschließend wünschen wir uns von der neuen Regierung eine klare Positionierung gegen jegliche populistischen Vereinfachungen, vor allem gegen alle Versuche, schutz- und hilfebedürftige Menschen für die gesellschaftlichen Probleme verantwortlich zu machen."
Alexander Wälde, Präsident der Handwerkskammer Reutlingen
"Das Handwerk fordert eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch Steuer- und Abgabenentlastungen sowie den Abbau bürokratischer Hürden, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Unverhältnismäßige Dokumentationspflichten sollen reduziert, das Arbeitszeitrecht flexibilisiert werden. Dringend nötig sind Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel, darunter verpflichtende Berufsorientierung an Schulen und unbürokratische Unterstützung für Betriebe bei der Fachkräftegewinnung aus Drittstaaten. Die duale Ausbildung muss gestärkt und als gleichwertige Alternative zum Studium etabliert werden.
Die Mobilität von Azubis sollte durch ein kostengünstiges Azubi-Ticket unterstützt, die Erreichbarkeit von Bildungszentren, Berufsschulen und Betrieben mit dem öffentlichen Nahverkehr sichergestellt werden – gerade im ländlichen Raum. Das Handwerk darf auch nicht aus den Innenstädten durch Wohnen verdrängt werden. Gezielte Ausweisung von handwerksgerechten Lade- und Servicezonen muss geschaffen werden."
Wohnungsbaugesellschaft Reutlingen (GWG)
»Die neue Bundesregierung muss endlich handeln, um den Wohnraummangel effektiv zu bekämpfen und den Wohnungsneubau anzukurbeln. Derzeit ist es kaum möglich, Wohnungen zu leistbaren Mieten zu bauen. Wir brauchen dringend niedrigere Baukosten, vergünstigte Grundstücke und eine Anpassung der Förderbedingungen, um den sozialen Wohnungsbau voranzutreiben. Nur durch schnelle Genehmigungen und eine Beschleunigung der Planung können wir den Mangel an bezahlbarem Wohnraum stoppen. Starre Bauvorschriften bremsen uns aus und müssen dringend neu durchdacht werden. Es ist an der Zeit, den Wohnungsbau zur höchsten Priorität zu machen, um eine lebenswerte Zukunft für die kommenden Generationen zu sichern. Es geht jetzt um die Schaffung von Lösungen für die breite Bevölkerung.«
Ralf Kusterer, Deutsche Polizeigewerkschaft
»Es geht um die Zuständigkeit im Bund. Zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität und illegalen Einreise, müssen Grenzkontrollen ausgeweitet werden. Frontex muss für einen europäischen Grenzschutz zu einer echten Grenzpolizei mit hoheitlichen Befugnissen ausgebaut werden. Das Bundespolizeigesetz muss reformiert und die Befugnisse der Bundespolizei müssen erweitert werden. Die Bundespolizei muss personell gestärkt und besser ausgestattet werden. Die Zuständigkeit der Bundespolizei auf Bahnstrecken/Bahnhöfen muss ausgeweitet werden. Keine Trennung nach Delikten, sondern nach Örtlichkeit. Das Bundeskriminalamt muss personell und materiell gestärkt werden. Bundespolizei und Bundeskriminalamt brauchen mehr Haushaltsmittel. Der Bund muss mehr Haushaltsmittel für die Bereitschaftspolizeien zur Verfügung stellen. Wir brauchen eine Taskforce für die Clan-/Banden- und Gewaltkriminalität, Extremismus und Terrorismus, sowie organisierter Kriminalität. Deutschland ist unsicherer geworden. Wir brauchen keine Bundespolizeibeauftragte, sondern Vertrauen und Rückhalt für die Polizei.« (GEA)