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Jung, engagiert, solidarisch: Reutlingens Linke boomt

Sie sind stolz auf den Einzug von Linken-Kandidatin Anne Zerr in den Bundestag und wollen politischen Worten unbedingt politische Taten folgen lassen: Vier neue Reutlinger Mitglieder der Linken sprechen darüber, warum sie zum Parteibuch gegriffen haben. Derweil Rüdiger Weckmann als »alter Hase« einen Rückzug des Kreisverbands ankündigt: völlig unpolitisch, mit Kartons und Lastwagen.

Jubel bei der Linken im Reutlinger S-Haus. Anne Zerr (Mitte, rotes Kleid) hat ein Bundestagsmandat gewonnen.
Wahlabend: Jubel bei der Linken im Reutlinger S-Haus. Foto: Stephan Zenke
Wahlabend: Jubel bei der Linken im Reutlinger S-Haus.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Beeindruckendes Abschneiden bei der Bundestagswahl, beeindruckender Mitgliederzuwachs innerhalb der Partei: Die Linke befindet sich landauf, landab im Höhenflug. Alles läuft rund. Und Reutlingens Genossen planen darob ihren Rückzug. Was zwar eigentümlich klingt, aber trotzdem der Wahrheit entspricht. Denn tatsächlich wird der hiesige Kreisverband demnächst zurückziehen: in seine angestammten Räumlichkeiten in der Karlstraße 16, die er mit Gründung des BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) hatte verlassen müssen.

Ein »Rausschmiss«, so Stadt- und Kreisrat Rüdiger Weckmann - »betrieben« von der einstigen Linken-Bundestagsabgeordneten und heutigen Wagenknecht-Anhängerin Jessica Tatti - war’s, der für die Genossen einen Adress-Wechsel unumgänglich werden ließ. Doch nun hat sich das Blatt gewendet. Jetzt ist Tatti draußen - aus dem Bundestag und damit auch aus der Karlstraße 16. Weshalb dem räumlichen Comeback der höhenfliegenden Reutlinger Linken nichts mehr im Wege steht.

Haben kurz vor der Wahl zum Parteibuch gegriffen: die Linken-Mitglieder Rinesa Zeka und Jaroslav Lucher  (vorne), Philip Valic u
Haben kurz vor der Wahl zum Parteibuch gegriffen: die Linken-Mitglieder Rinesa Zeka und Jaroslav Lucher (vorne), Philip Valic und Laura Renn (hinten). Foto: Frank Pieth
Haben kurz vor der Wahl zum Parteibuch gegriffen: die Linken-Mitglieder Rinesa Zeka und Jaroslav Lucher (vorne), Philip Valic und Laura Renn (hinten).
Foto: Frank Pieth

Die hatte zwischenzeitlich Unterschlupf im Souterrain der Weingärtnerstraße 14 gefunden. Was so weit, so okay war. Aber eben doch beengter und deutlich düsterer als vordem. Ausreichend Platz für eine Polit-Gruppe, die sich seit November vergangenen Jahres von 91 Mitgliedern auf aktuell 194 verdoppelt hat, ist hier definitiv nicht vorhanden. Selbst dann, wenn keine Generalversammlung ansteht und sich »nur« eine vielköpfige Schar motivierter Neulinge zum Brainstorming trifft.

Verdoppelt, verweiblicht, verjüngt: Die Linke hat sich runderneuert

Verdoppelt, verweiblicht, verjüngt - Rüdiger Weckmann bringt es auf den Punkt: »Wir sind eine neue Partei geworden«. Was zweifellos beflügelt, aber auch Herausforderungen mit sich bringt. Denn so viele noch nie gesehene Gesichter, so viele Ideen - all das will erst mal optisch verinnerlicht, thematisch sortiert, verdaut und priorisiert werden. Weckmann spricht von einem »Kennenlernprozess« und davon, dass selbst er als »alter Hase« nach der Wagenknecht-Abspaltung nicht mit einem generationsübergreifenden Schulterschluss derart vieler Linker gerechnet hätte: weder an der Wahlurne, noch beim Griff zum Parteibuch.

Reutlinger Mitgliederentwicklung

Reutlingens Linke befindet sich auf bemerkenswertem Wachstumskurs. Waren es am 1. November 2024 noch 91 Mitglieder, ist diese Zahl inzwischen (Stichtag 9. März) auf 194 angestiegen. Vom 14-Jährigen bis 80-Jährigen reicht das breite Altersspektrum derer, die ein Parteibuch haben. Darunter 51 weibliche Mitglieder. (ekü)

Wobei es insbesondere die zahlreichen Partei-Eintritte sind, die beileibe nicht nur »alte Hasen« verblüffen: umso mehr, als sie von verbindlicher Entschlossenheit künden und weit über jenes sattsam bekannte Wahl-Phänomen hinausgehen, nach dem die politischen Ränder immer dann Stimmenzuwächse erzielen, wenn die Mitte schwächelt. Zumal ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel ja schnell, vielleicht sogar aus einer bloßen Laune heraus gemacht ist, während einer Partei-Mitgliedschaft meist ein längerer Abwägungsprozess vorausgeht.

Mit festem Willen zu tätigem Handeln

Letztere kommt einem politischen Glaubensbekenntnis gleich und ist oft mit dem Willen zu tätigem Handeln verbunden. Sich einmischen, gestalten, korrigieren, inspirieren - die neue, die junge Reutlinger Linke will es und hat ihrem Wollen während des zurückliegenden Wahlkampfes prompt Taten folgen lassen. Ob in digitalen Netzwerken oder im analogen Straßenwahlkampf: linke Novizen haben Reutlingens frisch gebackener Bundestagsabgeordneten Anne Zerr erfolgreich den Rücken gestärkt.

Beim Haustpr-Wahlkampf konnte Reutlingens Linke punkten.
Beim Haustpr-Wahlkampf konnte Reutlingens Linke punkten. Foto: STEFFEN SCHANZ
Beim Haustpr-Wahlkampf konnte Reutlingens Linke punkten.
Foto: STEFFEN SCHANZ

Vier von ihnen sitzen jetzt im schummrigen Souterrain der Weingärtnerstraße und lassen keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit. Jede und jeder will Deutschland und damit auch Reutlingen sozial gerechter machen, will, dass im Großen wie im Kleinen Gleichberechtigung nicht bloß auf dem Papier stattfindet, dass das Grundrecht auf Wohnen kompromisslos ungesetzt und einer Zwei-Klassen-Medizin durch die Einführung einer Bürgerversicherung der Nährboden entzogen wird. Alle fordern, dass der Alltag wieder bezahlbar und mehr Solidarität gelebt wird.

Alle - das sind beim Pressegespräch die Neumitglieder Laura Renn (19), Rinesa Zeka (23), Jaroslav Lucher (26) und Philip Valic (33). Aus den unterschiedlichsten Ecken sind sie zur Linksparteil dazu gestoßen. Sie kommen aus der Klimabewegung, haben Gewerkschaftshintergrund oder sind sozialarbeitend tätig. Etwa Valic, der seine Brötchen als Jugend- und Heimerzieher in Tübingen verdient und früher »ehrenamtlich im kirchlichen Kontext« unterwegs war. Ausschlaggebend für seinen Parteieintritt: »der Fall der Brandmauer«.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

»Wenn nicht jetzt, wann dann«, habe sich der 33-Jährige gesagt - und entsprechend gehandelt. »Deutschland«, so der Reutlinger, »braucht ein linkes Korrektiv. Wir müssen ein Gegengewicht nicht nur zur extremen Rechten schaffen« – sondern auch zu jenen Kräften der politischen Mitte, die »immer mehr nach rechts« abdriften. Aus seiner Sicht sei diese Drift eine Form der Anbiederung zum Zwecke des Stimmenfangs, die man beim Wahlkampf habe beobachten können. Sie sei es, die den 33-Jährigen beunruhigt. Und mitnichten nur ihn, wie Philip Valic am Info-Stand der Linken auf dem Reutlinger Marktplatz bei Gesprächen erfahren habe. »Der gesellschaftliche Rechtsruck« habe hierzu den Topthemen gehört.

Erstmals mit der Linkspartei in Berührung gekommen ist Valic übrigens im privaten Umfeld. »Ich habe mit Bernd Riexinger in einem Haus gelebt.« Das sei durchaus prägend gewesen. Gleichwohl war dieser Kontakt nicht ausschlaggebend für den Griff zum Parteibuch. Denn der kam deutlich später - eben mit dem Fall der Brandmauer in Berlin.

Das Recht auf Wohnen soll aus Sicht der Linken kompromisslos ungesetzt werden.
Das Recht auf Wohnen soll aus Sicht der Linken kompromisslos ungesetzt werden. Foto: Arne Dedert/dpa
Das Recht auf Wohnen soll aus Sicht der Linken kompromisslos ungesetzt werden.
Foto: Arne Dedert/dpa

Ein Ereignis, dass auch Rinesa Zeka aufgerüttelt hat. Wiewohl es bei ihr primär »die Sorge um die Gesellschaft und um meine Familie« ist, die die 23-Jährige linkspolitisch aktiv werden lässt: weil Menschen mit Migrationshintergrund im Alltag viel zu oft »ausgegrenzt oder angepöbelt« würden. Sie selbst habe als Reutlinger Textil-Design-Studentin mit kosovarischen Wurzeln zwar noch keine wirklich schlimmen Erfahrungen sammeln müssen. »Im Bekanntenkreis kam das aber schon öfter vor.«

Diese Bekannten, weiß Zeka, beobachten, weil für Diskriminierung »sensibilisiert«, derzeit mit großer Verunsicherung, zuweilen auch mit Angst, die politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik, also »diese faschistischen Tendenzen«. Denen »möchte ich gegensteuern. Deshalb bin ich der Linken beigetreten. Man muss aktiv etwas tun« und nicht wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange in Schockstarre verfallen.

Aufbruchsstimmung mit Sogwirkung

Abiturientin Laura Renn sagt, dass die Aufbruchsstimmung der Linken auf sie wie ein Sog gewirkt habe. »Berichte über die vielen Partei-Eintritte« hätten sich mitreißend auf die 19-jährige Klimaaktivistin ausgewirkt. Als Teil der »Fridays for Future«-Bewegung liegen Renns thematische Schwerpunkte im Umweltschutz und Feminismus. Beides, sagt sie sinngemäß, werde in der Linkspartei großgeschrieben. Deshalb sei sie ihr zur politischen Heimat geworden.

Und Jaroslav Lucher? Als Mitglied der Gewerkschaft IG Metall hat der 26-Jährige die Arbeitnehmerrechte im Blick. Und: »Ich möchte mich für eine weltoffene Gesellschaft einsetzen.« Forderungen der Linken, wonach alle Menschen gleich welcher Herkunft, welchen Geschlechts und welcher Profession von ihrer Erwerbstätigkeit auskömmlich leben können sollten, will er vollumfänglich unterstützen.

Menschliche Bedürfnisse vor Profit-Interessen

»Die Arbeitsbedingungen«, so der Facharbeiter in der Chip-Herstellung, »müssen sich unbedingt wieder mehr an menschlichen Bedürfnissen orientieren und nicht an den Profit-Interessen der Unternehmer.« Tarifflucht ist für ihn ebenso wenig hinnehmbar wie Dumpinglöhne - etwa durch Werkverträge oder Leiharbeit. »Beides gehört abgeschafft.«

Besonders beeindruckt hat Jaroslav Lucher - und eben dieses Detail eint ihn mit den anderen Partei-Neuzugängen - »dass die Linke im Wahlkampf klare Ziele formuliert hat«, von denen sie kein Jota abgewichen sei. »Unbeirrt festgehalten hat sie an den Werten, für die sie sich einsetzt. Da habe ich mit Stolz verfolgt und begriffen: Das ist nicht bloß Show, das ist echt.« (GEA)