KREIS REUTLINGEN. Was werden die Bürger am 23. Februar wählen – und warum? Von Kirchentellinsfurt über Metzingen bis hoch nach Gächingen auf die Alb und zuletzt auf der Reutlinger Wilhelmstraße hat der GEA nachgefragt und eine Vielzahl differenzierter Meinungen mitgebracht.
»Die AfD- und Bildzeitungs-Hetze gegen die Bundesregierung haben nicht gefruchtet. Ich wähle wieder grün«: Reinhard Sielaff gehört zu denen, die sich klar positionieren. Die Koalition habe gut angefangen und nur wegen der FDP »nicht funktioniert«. Neoliberalismus und Sozialabbau fürchtet der 72-Jährige aus Kirchentellinsfurt, wenn die CDU den Bundeskanzler stellt, wovon er ausgeht. »Je nach Stärke mit Rot oder Grün dazu.« Generell ärgert ihn, wie Deutschland »Kapital« verspiele. Das einst führende Land verliere stetig an politischem und wirtschaftlichem Einfluss. Lohndumping, zu wenig Investitionen in den Unternehmen im eigenen Land, der Blick zu stark auf Aktionärsgewinne: Probleme seien genug da. Die Rechte biete dafür aber nur »Scheinlösungen« an.
»Wenn die AfD an die Macht kommt, geht es dem Land schlechter «
Tobias Helfrich, 28, ist noch unentschlossen, wo das Kreuzchen richtig sitzt. Seine Haltung ist eher pessimistisch: »Von oben wird nicht viel gemacht, und ich weiß nicht, ob es besser wird.« Die Politik versuche immer nur kurzfristig, Probleme zu lösen, ohne auf längere Konsequenzen zu schauen. Besser werden soll vor allem seine ganz konkrete Lebenswirklichkeit, besonders nennt er die öffentlichen Verkehrsmittel. Der Gomaringer Student muss täglich von seinem Zuhause nach Sindelfingen gelangen. Mit dem ÖPNV unmöglich. Ein Auto kann sich der BAföG-Empfänger nicht leisten. Letzte Woche ist er bei Glatteis gestürzt, weil er auch bei Wind und Wetter mit dem Motorrad nach Sindelfingen fährt. Auch sonst kämpft der junge Mann mit dem lieben Geld. »Alles wird teurer.« 80 Prozent des BAföGs gehen für die Miete drauf. »Die Mietpreisbremse hat nix gebracht und den Inflationsausgleich hat auch nicht jeder gekriegt.«
»Was sollen wir wählen: Da ist doch nix Neues im Angebot!« Marianne Friessnig gehört zu den Ratlosen – aber auch zu denen, die vor allem eines wollen: die AfD verhindern. »Wenn die an die Macht kommt, geht es dem Land schlechter«, glaubt die 66-jährige Metzingerin. Sie will daher »strategisch« wählen, um eine andere Partei stark zu machen. Nur welche? Baustellen für die Neuen sieht sie genug: Schulbereich, Verkehr, Gesundheit, vor allem auch die Finanzen. Daher ihr Wunsch an die Politik: »An uns denken, an Deutschland. Es wird zu viel Geld in andere Länder verschoben. Man kann anderen nur helfen, wenn man selber genug hat.«
»Gegen rechts wählen« will auch Carmen Büchler. Die 31-jährige Lehrerin aus Apfelstetten rät, mal das Wahlprogramm der AfD zu lesen. Es sei diesmal wichtiger denn je, zur Wahl zu gehen. Früher hat sie schon mal grün gewählt oder die Tierschutzpartei. Diesmal falle auch ihr die Auswahl schwer. Es gelte »Pest oder Cholera« anzukreuzen. Die CDU wäre »akzeptabel« – allerdings mit jemand anderem vorne dran als Frieder Merz. Angela Merkel würde ihr besser passen. Sie sei »so unaufgregt, so wenig reißerisch«. Es brauche ihrer Meinung nach jemanden, der mehr Ruhe in die Gesellschaft bringe, in der oft kein Konsens mehr zu finden sei. Altersarmut, ein Mittelstand, der immer weniger Geld habe, immer mehr Familien, die am Rande des Existenzminimums lebten, Umweltauflagen, die die Wirtschaft belasteten: »Ich verstehe die Unzufriedenen«, sagt die Lehrerin. Sie würden aber oft »falsche Schlussfolgerungen« ziehen.
»Egal was ich wähle, es wird doch keinen großen Wandel geben «
Die Ausweitung der Macht von AfD und Rechtsextremen besorgt Karin Steinhilber ungemein. »Ich sehe Demokratie und Freiheit in Gefahr. Alles fängt mal klein an«. Die Wahl sieht die 72-Jährige aus Rommelsbach diesmal als »Belastung« in dem Sinne, dass jeder Verantwortung übernehme für unerwünschte Folgen: sprich das Erstarken der Rechten. Sie selbst weiß allerdings noch nicht, wo sie ihr Kreuz am sinnvollsten setzen kann. Was sie wünscht: »Dass der Ukraine-Krieg nicht weiter befeuert wird, dass Migranten nicht aus dem Land gejagt werden, dass endlich in die Infrastruktur investiert wird und Arbeitsplätze erhalten bleiben.«
Dorothee Schöllkopf aus Walddorfhäslach will "strategisch" die CDU stärken. Und dann wünscht sich die 36-jährige Mutter zweier Kinder klare Signale von der Politik: "Familien müssen mehr beachtet werden." Billigere Energie für Private, aber auch Unterstützung des Mittelstandes bei der Energiewende seien nötig. Sie habe "Vertrauen in die Politik sagt die Lehrerin. Sie sieht aber auch durchaus den Moment gekommen, dass sich "normale Bürger" für die Demokratie engagieren und "mal auf die Straße gehen müssen". Es sei an der Zeit, Missstände zu benennen. Und wenn 30 Prozent AfD wählen, müsse die Politik auch diese Stimmen hören. Dass etwa die Integration nicht immer gelingt, sehe man extrem in der Schule. "Ich habe Angst, was da auf meine Kinder zukommt."
Messout Golami freut sich auf die Wahl. Der 23-jährige Kfz-Mechatroniker, der im Nebenjob in einem Lebensmittelladen in der Reutlinger Metzger-straße arbeitet, verbindet damit die Hoffnung auf Verbesserung. »Alles ist teurer und schwieriger geworden. Ich muss viel arbeiten, um die Wohnung zu bezahlen und einkaufen gehen zu können.« Seine Familie komme aus Afghanistan. Er selbst fühle sich gut integriert. »Verunsicherung« plage ihn jedoch. Wegen der vielen Firmeninsolvenzen. Und er fürchtet sich vor Krieg – konkret mit Russland. Er erinnert sich wehmütig an die Merkel-Zeit: »Die habe ich gemocht. Damals war alles noch gut.« Nun ist er unenschlossen, traut am ehesten den Grünen Problemlösungen zu.
»Ein verengter Meinungskorridor hinterlässt ein ungutes Gefühl in einer Demokratie«
»Egal was ich wähle, es wird doch keinen großen Wandel geben.« Hermine Stuis aus Metzingen-Neuhausen wirkt einen Monat vor der Wahl ein bisschen resigniert. Die 39-jährige Mutter findet, dass das Thema Kinderbetreuung von der großen Politik schnellstmöglich angegangen werden sollte. Denn es betrifft sie und ihre Lebensrealität jeden Tag. »Wir Frauen sollen arbeiten – aber gleichzeitig ist die Betreuung so unzuverlässig«, sagt sie. Viel zu oft kämen Schließungen wegen Personalmangels oder Krankheit vor. Stuis arbeitet im Management einer Arztpraxis. Die Einführung der elektronischen Krankenakte sei ein Schnellschuss der Politik gewesen, findet sie. Verschiedene Praxen arbeiten aktuell mit verschiedenen Systemen – die stellenweise nicht miteinander kompatibel sind. »Das wurde nicht zu Ende gedacht«, befindet Stuis.
Johannes Fischer aus Metzingen hat einen klaren Koalitionswunsch: »Schwarz-gelb!«. Der 81-Jährige verteidigt an diesem kalten Morgen auf dem Metzinger Kelternplatz die unpopuläre Entscheidung von FDP-Chef Christian Lindner, dem Bundeshaushalt nicht zuzustimmen. »Das war absolut richtig.« Mit Markus Söder an der Spitze hätte die CDU seiner Meinung nach noch bessere Chancen, denn »Merz ist einfach kein Sympathieträger«. Er hofft, dass die zukünftige Regierung aufhört, dauernd zu betonen: »Uns geht es gut.« Seiner Meinung nach eine Floskel, die in der Politik wenig zu suchen hat – denn sie sei gleichbedeutend mit Stillstand.
Kristin Neubert darf am 23. Februar nicht wählen, denn sie besitzt keine deutsche Staatsbürgerschaft. Eine klare politische Meinung hat sie trotzdem. Die Lebensgefährtin des St. Johanner Unternehmers Rolf Dieter sagt: »Wir sind wirtschaftlich am Ende.« Um direkt mit bitterem Ton anzufügen: »Ich habe aber keinerlei Erwartungen an diese Wahl, denn es wird sich nichts ändern. Die CDU wird sich mit grün oder rot zusammentun – und dann bleibt es sowieso gleich.«
Sie ist an diesem kalten Januartag mit ihrem Lebensgefährten zum Mittagessen im Hirsch in Gächingen, auch der Münsinger Unternehmer und Kommunalpolitiker Uli Schwenk sitzt am Tisch. Schnell entsteht eine lebendige Polit-Diskussion. Wirtschaft ist das große Thema.
»Wir fühlen uns als Unternehmer ausgelaugt«, sagt Rolf Dieter. Vor allem seit der Ampelregierung sei die Auftragslage wirklich mau. Die Menschen seien verunsichert, knapp bei Kasse, würden sich jede Investition gut überlegen. »Selbst im reichen München investiert man nicht mehr«, sagt er.
Uli Schwenk, Segelflieger und Ex-Kommunalpolitiker aus Münsingen, wünscht sich von einer neuen Regierung vor allem eins: »Arbeit muss sich wieder lohnen.« Unternehmern dürfte man nicht immer noch mehr bürokratische Stolpersteine in den Weg legen, und Arbeitnehmer müssten endlich wieder deutlich im Geldbeutel merken, dass es sich auch lohnt zu arbeiten. Der Staat habe aktuell nahezu die Rolle eines »Erziehungsberechtigten« – und das sei falsch. Beispiel gefällig? Dass er sein Handyladekabel im Geschäft von der Berufsgenossenschaft prüfen lassen muss, ist für ihn zum einen nervig, zum anderen schlichtweg übergriffig.
Der 64-Jährige will vor der Wahl eine lokale Veranstaltung von jeder im Bundestag vertretenen Partei besuchen. »Aber als ich zur AfD-Veranstaltung gefahren bin, war ich sehr verunsichert«, sagt er. Vor Brandmarkung – durch die Gesellschaft wie durch den Verfassungsschutz. Ein verengter Meinungskorridor hinterlasse bei ihm ein ungutes Gefühl in einer Demokratie, befindet Schwenk. Sein bitteres Fazit: »So viel Mühe, bis ich zu meinem Kreuz gekommen bin, hatte ich noch nie.«
Ein Mann aus Pliezhausen ist an diesem kalten Januarmorgen beim Einkauf in Kirchentellinsfurt. Er will sich gerne über Politik unterhalten – aber seine Meinung nicht mit Namen in der Zeitung lesen. Aus Respekt oder gar Angst vor Brandmarkung, wie er sagt. Und dabei sind seine Positionen gar nicht mal extrem – nur eben konservativ. Er findet, dass die Migration nach Deutschland stärker eingedämmt werden sollte. »Ich finde auch Merz-Positionen dazu gut – aber er wird koalieren müssen und mit einer SPD wird sich da nichts ändern.« Die Energiepolitik der aktuellen Regierung findet er schlichtweg »konzeptionslos«. Der Mann hat selbst eine PV-Anlage auf dem Dach, ist also kein Gegner von erneuerbaren Energien. »Aber wir brauchen eine vernünftige Energiepolitik«, sagt er. »Wir müssen die Erneuerbaren so ausbauen, dass sie grundlastfähig werden.« (GEA)