Pro Fahrradstraße Planie: Volle Pulle Vorfahrt war gestern
Die Umsetzung des Masterplans Radverkehrs geht viel zu langsam, keine Frage. Aber in der Autostadt Reutlingen geben die politischen Mehrheiten Schneckentempo in Sachen Verkehrswende vor. Doch sind bei allem Verdruss 21 Prozent Radverkehrsanteil im Reutlinger Modal Split eine Ermutigung, dranzubleiben. Das E-Bike setzt Menschen in Sättel, die zuvor nicht im Traum daran gedacht hätten. Und auch die Radverkehrsförderung unter Oberbürgermeister Thomas Keck hat ihren Anteil am positiven Trend.
Die Umsetzung der »Rad- und Fußachse« Planie hat natürlich ebenfalls zu lange gedauert – auch weil man lange über aufwendige Lösungen diskutiert hat. Die Quick-and-dirty-Version ist nun ein schönes Beispiel dafür, wie man mit wenigen Mitteln Veränderung erreichen kann. Ja, die Planie erfordert von Autofahrern nun erhöhte Achtsamkeit. Und das ist gut so. Denn ein Appell der Verkehrswende im endlichen Straßenraum lautet: Nehmt Rücksicht vor allem auf Schwächere (das gilt auch für Radler Fußgängern gegenüber!). Wer mal in einer nordischen Großstadt geradelt ist, weiß, wie gut es sich anfühlt, mit Autofahrern im Gewühl zu sein, die sich nicht mehr als Platzhirsche empfinden.
Auch in Reutlingen praktizieren viele Verkehrsteilnehmer längst Rücksicht. Die anderen müssen jetzt lernen: Volle Pulle geradeaus und immer Vorfahrt war gestern. Als Achtsamkeitsübung taugt das Provisorium Planie bestens – und so ganz nebenbei ist Reutlingens erste (fast komplette) Hauptradroute aus dem Masterplan entstanden: Vom Stadtpark bis zum Freibad fährt man in weiten Teilen auf Fahrradstraßen. Ausprobieren!
Contra Fahrradstraße Planie: Wenn schon, denn schon richtig
Die Verkehrswende ist zu wichtig, um sie mit halbherzigen Versuchen zu gefährden. Doch seit Jahren wird in Reutlingen ein verkehrspolitisches Stückwerk abgeliefert, das niemanden zufriedenstellen kann.
Dort Fahrradstraßen, mit und ohne irrwitzigen Hindernissen für Automobilisten, zwischendurch Schutzstreifen, Fahrradweg oder nix. Hier ein kaum nachvollziehbarer Schilderwald voller ständig wechselnder Tempolimits, gespickt mit Blitzersäulen. Gegenläufige Einbahnstraßen woanders. Jede Einzelmaßnahme mag für sich betrachtet Sinn ergeben, aber in der Summe entsteht ein Chaos. Mal hat man als strampelnder Mensch Vorfahrt, mal nicht.
Laufende Zeitgenossen befinden sich, je nachdem, in einer Fußgängerzone, im geteilten Verkehrsraum, an einer Ampel oder einfach auf dem Zebrastreifen. Autofahrer müssen bitteschön stets damit rechnen, dass sich Spuren in Nichts auflösen oder die Vorfahrt geändert worden ist. Blickt da noch jemand durch?
Es spricht nichts dagegen, festzustellen, dass der autofreien Stadt die Zukunft gehört. Gerade weil die Zahl der Blechkisten wächst, der Autoverkehr statt abzunehmen zunimmt. Dann sollte der Gemeinderat mit entsprechender Mehrheit genau dies feststellen und konsequent umsetzen. Aber ständig den Autofahrern den sprichwörtlichen Stinkefinger zu zeigen, ist keine Lösung.
Mit ein paar Eimern Farbe und Schildern wie jetzt an der Planie mal etwas herumzuprobieren erzeugt nur berechtigten Unmut bei den Autofahrern, die es eben auch noch gibt, während die Radler und Fußgänger davon möglicherweise nicht wirklich etwas haben werden.