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Wie Demokratie an Reutlinger Gymnasien geübt wird

Muss Schule wertneutral sein? Wie viel Politik verträgt sie? Und wie wird Demokratie im und außerhalb des Unterrichts vermittelt? Ein Gespräch mit dem Geschäftsführenden Leiter aller fünf Reutlinger Gymnasien, Dr. Günter Ernst.

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Ob Schulversammlungen - hier eine Aufnahme aus Bad Urach - Schülerbeteiligungen im Rahmen von SMV oder Workshops: Sie sind Teile gelebter Demokratie an baden-württembergischen Bildungseinrichtungen. Foto: Andreas Fink
Ob Schulversammlungen - hier eine Aufnahme aus Bad Urach - Schülerbeteiligungen im Rahmen von SMV oder Workshops: Sie sind Teile gelebter Demokratie an baden-württembergischen Bildungseinrichtungen.
Foto: Andreas Fink

REUTLINGEN. Lehrkräfte sind in Deutschland dazu verpflichtet, ihren Schülerinnen und Schülern demokratische Werte zu vermitteln. Beispielsweise Menschenrechte. Durch und durch politisch neutral müssen Pädagogen hingegen nicht sein. Wiewohl sich dieser Irrglaube hartnäckig hält und in Reutlingen vor ziemlich genau einem Jahr öffentliche Diskussionen losgetreten hatte - ausgehend vom Johannes-Kepler-Gymnasium.

»Es war eine schwierige und komplexe Entscheidung«

Dessen Direktor, Thomas Moser, hatte sich damals dazu entschlossen, den AfD-Bundestagsabgeordneten Dirk Spaniel von der schulinternen Veranstaltungsreihe »Kepi trifft Politik« auszuladen. Eine, wie Moser dem GEA damals sagte, »schwierige und komplexe Entscheidung«, die er sich alles andere als leicht gemacht habe.

Vorausgegangen war ihr ein dank der Ermittlungen des Recherche-Zentrums Correctiv aufgeflogenes konspiratives Treffen rechtsextremistischer Kräfte in Potsdam, in dessen Rahmen Remigrationspläne für Menschen nichtdeutscher Herkunft geschmiedet worden waren.

Weiß, dass Demokratie an Schulen eingeübt werden muss: der Geschäftsführende Leiter aller fünf Reutlinger Gymnasien, Dr. Günter
Weiß, dass Demokratie an Schulen eingeübt werden muss: der Geschäftsführende Leiter aller fünf Reutlinger Gymnasien, Dr. Günter Ernst. Foto: Frank Pieth
Weiß, dass Demokratie an Schulen eingeübt werden muss: der Geschäftsführende Leiter aller fünf Reutlinger Gymnasien, Dr. Günter Ernst.
Foto: Frank Pieth

Das sorgte für bundesweite Demonstrationen und schürte auch in den Klassenzimmern des Keplergymnasiums erhebliche Ängste. Umso mehr, als sich weder die AfD-Bundestagsfraktion noch die des Reutlinger Stadtparlaments von den antidemokratischen Bestrebungen in Potsdam distanziert hatten. Konnte die Schulleitung dies guten Gewissens ignorieren?

Sie konnte nicht, wollte das nicht und tat es auch nicht, sondern zog die Konsequenzen - und wurde dafür von Eltern, Schülern, Kollegen und einer breiten Öffentlichkeit gelobt. Von höherer Stelle gerüffelt wurde sie übrigens nicht. Wiewohl es auch Stimmen gab, die das vermeintliche Gebot politischer Neutralität verletzt sahen und den Spaniel-Ausschluss mit Missbilligung quittierten.

»Eine 20-Prozent-Partei kann man nicht einfach außen vor lassen«

Dabei übersahen diese Kritiker freilich ein wesentliches Detail: Der »Kepi«-Chef hatte keine generell gegen die AfD gerichtete Grundsatz-, sondern eine Einzelfallentscheidung im Kontext von Potsdam und der Unruhe innerhalb der Schülerschaft getroffen.

So weit, so passé. Dass das Thema »Politische Neutralität« in der Bildungslandschaft jetzt abermals aufpoppt, hängt mit der kürzlich verabschiedeten Reform der Förderung von Demokratiebildung an Schulen zusammen. Klares Signal aus Stuttgart: Lehrkräfte dürfen ausdrücklich Haltung zeigen, wenn dadurch die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht verletzt wird. Und: Neutralität ist in keinem Falle so zu interpretieren, dass Lehrer ihre Überzeugungen an der Schulgarderobe abgeben müssen.

Dessen ungeachtet ist und bleibt das Thema Neutralität im Unterricht ein vergleichsweise schwammiges. »Ja«, sagt Dr. Günter Ernst, Geschäftsführender Leiter aller Reutlinger Gymnasien und Direktor des »Albert-Einstein« (AEG), »man benötigt Fingerspitzengefühl«. Er spricht von sorgfältigem Abwägen und möchte die einstige Entscheidung seines Kollegen Moser weder mit richtig noch mit falsch bewerten. Zwischen den Sätzen schwingt indes mit, dass er Mosers situativen Entschluss bestens nachvollziehen kann.

Früh übt sich, was ein Demokrat werden will.
Früh übt sich, was ein Demokrat werden will. Foto: Marijan Murat/dpa
Früh übt sich, was ein Demokrat werden will.
Foto: Marijan Murat/dpa

Gleichwohl betrachtet Ernst es - Stand heute - als schwierig, die AfD bei Polit-Veranstaltungen auszuklammern. »Eine 20-Prozent-Partei«, so der Leiter des Albert-Einstein-Gymnasiums, »kann man nicht einfach außen vor lassen«. Konkret: »Ich würde sie nicht abweisen, aber von vornherein klarstellen, dass O-Töne aufgezeichnet werden. Denn damit hätten wir wunderbares Material für den Politikunterricht und für eine kritische Auseinandersetzung.«

»Wertneutralität«, so Günter Ernst, »ist kein Bildungsziel. Unser Auftrag lautet, die Urteilsfähigkeit der Schüler zu fördern und einen Beitrag zur Demokratiebildung zu leisten«. Dazu gehöre auch, dass AEG-Gymnasiasten krasse Meinungen äußern dürfen - um sie zur Diskussion zu stellen. Maulkörbe werden jedenfalls keine verordnet. Denn die wären kontraproduktiv, würde Probleme nicht lösen, sondern verlagern: ins Private, in die jeweilige kulturelle und ideologische Blase und damit außer Reichweite der Schule in deren Funktion als Korrektiv.

»Deshalb geben wir Raum für Kontroversen, fordern aber die Einhaltung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein.« Etwa bei den russischen Schülern am AEG, die mitunter Kreml-Parolen rausgehauen - weil sie’s nicht besser wissen und nicht anders kennen.

»Die Gymnasiasten in Reutlingen sind eine sehr diverse Gruppe«

»Sie müssen Demokratie einüben und vorgelebt bekommen. Das ist meines Erachtens der richtige Weg. Denn Schule, die auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung basiert, teilt Putin-Narrative selbstverständlich nicht.« Ebenso wenig wie die zuweilen unangenehm auffallenden Macho-Allüren muslimischer Jugendlicher, die weiblichen Lehrkräften jedwede Autorität abzusprechen versuchen.

»Die Gymnasiasten in Reutlingen sind eine sehr diverse Gruppe«, beschreibt Günter Ernst den Ist-Zustand. Deshalb sei es enorm wichtig erfahrbar zu machen, »dass Demokratie wirkt; dass sie vieles aushält und im Bildungsalltag konsequent gelebt wird«.

»Über alles, was zweckdienlich und machbar erscheint, soll debattiert werden«

Beispielhaft hierfür sind unter anderem »Demokratiebildungstools« wie Klassenräte oder die Schülermitverantwortung (SMV). Beides sind für Günter Ernst unentbehrliche Beteiligungsformen: oft mit konkreten Ergebnissen.

Hierbei gilt: »Über alles, was zweckdienlich und machbar erscheint, soll debattiert werden. Wer einen Vorschlag unterbreitet und Projekte anregt, muss auch die Verantwortung für deren Umsetzung übernehmen.« Was offenbar eine nicht zu unterschätzende Hürde darstellt. Denn »nur zehn Prozent aller SMV-Ideen«, schätzt Ernst, werden Wirklichkeit - »weil es den Schülern an Zeit und Power fehlt«. Derweil anderes zu Tode diskutiert und sodann beerdigt, wieder anderes auf die lange Bank geschoben wird.

Fazit: Im besten Fall geht es im Mikro-Kosmos Schule zu wie in einem kleinen Staat. Hier gedeiht ein Stück, so Günter Ernst, »Graswurzel-Demokratie« mit allem, was dazugehört: ein langer Atem, stichhaltige Argumente, Umsetzbarkeitsprüfungen und Streitkultur - ziemlich anstrengend, aber eben auch praxisnah, sehr lehrreich und aus Sicht des Geschäftsführenden Schulleiters zielführender als »Abgeordnetenreferate«. (GEA)