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Dritte Bombardierung Reutlingens: Zeitzeugen erinnern sich

Amerikanische Streitkräfte haben am 1. März 1945 zum dritten Mal in den letzten Kriegsmonaten durch Bombardierungen schwere Schäden in Reutlingen angerichtet. Vier Zeitzeugen erzählen.

Das damals so genannte »Neue Rathaus« in Reutlingen nach dem Luftangriff vom 1. März 1945.
Das damals so genannte »Neue Rathaus« in Reutlingen nach dem Luftangriff vom 1. März 1945. Foto: Privat
Das damals so genannte »Neue Rathaus« in Reutlingen nach dem Luftangriff vom 1. März 1945.
Foto: Privat

REUTLINGEN. Mit 474 getöteten Bewohnern durch Bombenangriffe der alliierten Streitkräfte 1944 und 1945 gehörte Reutlingen zu den zehn am stärksten zerstörten Städten in Baden-Württemberg. 117 Menschen sind beim letzten schweren Angriff der 8. amerikanischen Luftflotte am 1. März vor 80 Jahren auf die Stadt ums Leben gekommen. Zwischen 12 und 17 Uhr herrschte durchgehend Fliegeralarm. 600 Spreng- und 11.000 Stabbrandbomben gingen vor allem auf die Innenstadt und Bahnhofsgegend nieder. 200 Gebäude wurden total zerstört, darunter sechs Fabriken, Lager- und Warenhäuser: Haux, Kocher, Knapp. Dazu markante Gebäude wie das Rathaus, Hotel Kronprinz und die Ebenezerkapelle an der Gartenstraße, deren durch die Feuersbrunst angetriebene Orgel um 2 Uhr nachts für Zeitzeugen klang, als singe sie ihr eigenes Sterbelied.

Ingrid Schwarz, geborene Hecht, Jahrgang 1931, hat der GEA-Bericht über die »Schwarzen Tage für Reutlingen« aufgewühlt. Trotzdem ist es für die sportliche Pfullingerin wichtig, darüber zu sprechen. »Sie haben die Innenstadt gar nicht erwähnt«, bemerkt sie. Dabei sind ihr insbesondere die brennenden Häuser rund um den Marktplatz in Erinnerung. Das sogenannte Neue Rathaus, das bereits am 15. Januar schwer getroffen worden war, fiel am 1. März 1945 vollends in sich zusammen. Sie war damals 13 und hat am Gartentor im Haus der Großeltern gewohnt. Ihre Mutter hatte ihr eingebläut, wenn die Flieger kommen, muss sie mit ihrem knapp zweijährigen Bruder in den Keller. Dort saß Ingrid heute vor 80 Jahren mit dem Kleinkind im Arm- »und heulte Rotz und Wasser: Was tu’ ich, wenn die Mama nicht mehr kommt?« Die war kurz vor dem Angriff ins Freie geeilt, stand keine zwei Meter von einem Baum entfernt, den Bomben der Alliierten pulverisiert haben. Aber sie hatte sich im Gartentor-Durchgang untergestellt. Und die dicken Mauern schützten sie. Im Bunker am Bahnhof, der mehrfach voll getroffen wurde, hat die 93-Jährige am 1. März 1945 drei Schulkameradinnen von der damaligen Mittelschule verloren.

Weil Frau Kachel von der Kachel'schen Apotheke an der Ecke zur Wilhelmstraße Sorge hatte, dass Flammen übergreifen, haben die Kinder mit Leiterwägelchen von dort die medizinischen Vorräte in die Bürstenmacherwerkstatt von Ingrids Großvaters gebracht. »Den unteren Stock hat man gefüllt mit der Apotheke. Das ist meine große Erinnerung. Und dann seh' ich noch das Rathaus in Schutt und Asche.«

Ingrid Schwarz, geborene Hecht, hat als Kind die Bombardierung der Reutlinger Innenstadt erlebt.
Ingrid Schwarz, geborene Hecht, hat als Kind die Bombardierung der Reutlinger Innenstadt erlebt. Foto: Claudia Reicherter
Ingrid Schwarz, geborene Hecht, hat als Kind die Bombardierung der Reutlinger Innenstadt erlebt.
Foto: Claudia Reicherter

Die Großeltern mütterlicherseits wohnten in der Albstraße. Nach dem zweiten schweren Angriff am 22. Februar eilte ihre Mutter dorthin. An der Wirtschaft zum Anker vorbei ging sie durch ein Gässle zur Ulrichstraße, wo sie über die toten Körper gefangener Franzosen steigen musste, die in den dortigen Fabriken als Zwangsarbeiter eingesetzt waren und in der Kegelbahn hinter dem »Anker« übernachteten. »Da ist eine Sprengbombe reingefallen und die hat es rausgehauen«, berichtet die heute 93-jährige Tochter. Ihr Vater war damals schon tot - »aber das wussten wir nicht« - gefallen als Soldat in Frankreich. »Wir haben eine furchtbare Zeit mitmachen müssen.«

»Christbäumla über der Achalm - ond scho hot's klepft«

Am 15. Januar »war nicht mal Voralarm«, erinnert sie sich. Ilse, die im Haushalt half, sprang vom Mittagstisch auf und rief: »Da sind ja Christbäumla!« - »Ond scho hot's klepft«, erzählt die Schwester des späteren Inhabers von Elektro Hecht in der Metzgerstraße. Dann sahen sie die Bomber über der Achalm wenden und direkt auf sich zusteuern. Wenn es »bei den Jungen immer nur um Party-Party geht«, mahnt sie: »Unsere Partys waren Christbäume vom Himmel, überlegt Euch das mal!« Neben dem Bett standen nachts selbstgenähte Rucksäcke - alles andere hatte man ans Heer abgeben müssen -, gefüllt mit dem Nötigsten, was man braucht: Anziehsachen, Wäsche, obendrauf die Gasmaske, die jedes Kind und jeder Erwachsene haben musste. Und am Rucksack war der Name dran. »Das war unsere Kindheit.«

»Ich hab' das noch genau im Kopf, wie sie im Wohnzimmer aufgebahrt lag «

Die meisten Opfer starben in ihren Kellern, in denen sie eigentlich Schutz gesucht hatten. Wurden die Häuser getroffen, fanden sie sich unter Steinmassen verschüttet und erschlagen. Oder starben durch Ersticken und Verbrennen.

So erzählt Irene Daigler, Jahrgang 1935, von ihrer Cousine, die als »sehr intelligente« und begabte junge Frau aus Trochtelfingen-Steinhilben während der Kriegsjahre auf die Isolde-Kurz-Oberschule für Mädchen in Reutlingen geschickt worden war. Sie habe bei einem ledigen Fräulein am Bahnhof gewohnte, das wie eine zweite Mutter für sie wurde. Am 1. März 1945 war die 18-Jährige zu Besuch in ihrer Heimat. Irene, damals neun Jahre alt, erinnert sich, wie »das Mariele wunderhübsch am Klavier stand«. Und die Verwandtschaft sie wegen der angekündigten Luftangriffe noch bat: »Bleib hier!« Doch Maria Hölz wollte zurück, da sie sich ihrer Vermieterin so verbunden fühlte. So fuhr sie mit der Zahnradbahn hinunter in die Stadt. Und kam dort in einem Luftschutzkeller ums Leben. »Es hat leicht Schnee gehabt, wie heut'«, sagt Irene Daigler. »Ich hab' das noch genau im Kopf, wie sie im Wohnzimmer aufgebahrt lag mit einem Turban auf dem Kopf. Mit so einer Schleife vorn, wie man das damals hatte. Furchtbar, mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke.« Verletzungen sah man keine am »Kerles-Mariele«, wie die vielversprechende junge Frau wegen ihrer Herkunft von einem großen Hof mit vielen Knechten, den Kerlen, im Dorf genannt wurde. Wahrscheinlich sei sie erstickt. Sie hatte ein Bild bei sich, das war leicht bräunlich verkohlt, erinnert sich die 89-Jährige. Ihr Sohn sage oft, »du musst dein Gedächtnis mal wieder leeren«. Geht aber nicht. »Traurig, traurig. Und jetzt ist wieder Krieg bei uns in Europa. Ich versteh's nicht.«

Zerstörte Gebäude rund um den Marktplatz in der Reutlinger Innenstadt nach Luftangriffen der Alliierten zwischen Januar und März
Zerstörte Gebäude rund um den Marktplatz in der Reutlinger Innenstadt nach Luftangriffen der Alliierten zwischen Januar und März 1945. Im Bild Überreste des Gasthaus Krone und links noch sichtbar das so genannte Neue Rathaus. Foto: Dohm/GEA
Zerstörte Gebäude rund um den Marktplatz in der Reutlinger Innenstadt nach Luftangriffen der Alliierten zwischen Januar und März 1945. Im Bild Überreste des Gasthaus Krone und links noch sichtbar das so genannte Neue Rathaus.
Foto: Dohm/GEA

Eberhard Weinmann, Jahrgang 1933, geboren in der Nürtingerhofstraße, war damals elf. »Wir mussten mit zehn ins sogenannte Jungvolk eintreten, das war eine Vorstufe zur Hitlerjugend«, berichtet er, »mit scheußlichen Uniformen. Die mussten die Eltern kaufen und sie waren furchtbar unbequem.« Mehrmals die Woche hatte er als Bub so »zum Dienst zu erscheinen« - für eine Art »paramilitärische Ausbildung mit Holzhandgranatenwerfen und lauter so Zeugs«. Nach dem ersten schweren Luftangriff 1945 mussten die Kinder gleich zum »Trümmerräumen«. Die Listhalle war total zerstört. »Darin lang meterhoch Schutt.« Dem rückten sie mit Schaufeln und Pickeln von daheim zu Leibe. In der Liststraße, die ebenfalls »total eben gemacht worden« war, konnten die Buben nichts ausrichten, denn »die Ziegelsteine der Kellerwände waren noch glühend heiß«. So zogen sie wieder ab. Und mussten in der Fizionstraße und Teilen der Tübinger Straße auf die eisigen Dächer rauf. »Bomber hatten Unmengen an Stabbrandbomben abgeworfen, die zum Teil als Blindgänger auf den Dachböden lagen. Wir mussten vom Treppenhaus aus ohne Seilsicherung die Ziegel umdecken, damit die Dächer wieder dicht waren. Es war ja Winter.«

»Die Mutter hatte Maultaschen gemacht. Es ist mir bis heute schleierhaft, wie sie zu den Zutaten kam. «

Der 1. März war der 40. Geburtstag seines Vaters, der als Mechaniker beim Rüstungsbetrieb Keinath »UA - unabkömmlich« war. Den Angriff erlebte der heute in Eningen lebende 91-Jährige in der Heinestraße. »Dort war ein Gewölbekeller. Einen Teil davon hat der Besitzer mit Tisch und Stühlen ausgestattet und mit Balken die Decke verstärkt. Die Mutter hatte Maultaschen gemacht. Es ist mir bis heute schleierhaft, wie sie zu den Zutaten kam. Wie man damals findig war.« Eberhards Vater hatte »ein einfaches Radio selbst gebastelt«. Über einen Sender und Karten mit Planquadraten konnte man verfolgen, wo die Bombergeschwader gerade waren. »Das war aber natürlich strengstens verboten.«

Rose Laier erinnert sich als  Zeitzeugin an die Luftangriffe der Alliierten im Frühjahr 1945, obwohl sie damals noch nicht ganz
Rose Laier erinnert sich als Zeitzeugin an die Luftangriffe der Alliierten im Frühjahr 1945, obwohl sie damals noch nicht ganz vier Jahre alt war. Foto: Claudia Reicherter
Rose Laier erinnert sich als Zeitzeugin an die Luftangriffe der Alliierten im Frühjahr 1945, obwohl sie damals noch nicht ganz vier Jahre alt war.
Foto: Claudia Reicherter

Rose Laier, geborene Riehle, Jahrgang 1941, schreibt: »Ich wohnte mit meinen Eltern in der Oberen Tübinger Straße bei meiner Oma Kurtz im Gasthof Linde. Obwohl ich noch nicht ganz vier Jahre alt war, kann ich mich noch an vieles erinnern.« Bis heute wundert sie sich, »dass ich das mitbekommen habe«. Vielleicht, weil die Erlebnisse so schlimm und einschneidend waren. Und sie als Kind auch die Angst und Anspannung der Eltern spürte. »Besonders habe ich die Tiefflieger mit ihrem Geheule im Ohr. Es war furchtbar. Ich sehe auch noch die Listhalle vor mir, wie sie lichterloh gebrannt hat.« Vor dem Angriff rannten sie und ihre Angehörigen in einen Eiskeller nahe der AOK - »vorbei am brennenden Haus der Familie Elektro-Röhm«. Doch auch die Brauerei wurde bombardiert. »Und ich bekam eine Gasmaske aufgesetzt.«

»Meine Oma lief durch den Bombenhagel und ist wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen«

Ihre Großeltern Riehle, väterlicherseits, wohnten in der Liststraße und wurden dort ausgebombt. »Wie ich von meiner Mutter erfahren habe, lief meine Oma durch den Bombenhagel hindurch und legte sich zum Schutz unter einen Leiterwagen. Sie ist wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen, zumal dieser Teil der Stadt nach dem schweren Luftangriff in Schutt und Asche lag.« Ihre Großeltern Riehle, der Opa war Kreisbrand- und -braumeister, kamen dann bei der Oma Kurtz in einem Fremdenzimmer der Gaststätte unter. »Sie hat auch die Familie ihres Bruders August Witzemann bei sich aufgenommen«, erzählt die Orschel-Hagenerin. Mit fünf Kindern. Als sie in die Schule kam, konnte sie bei Tieffliegerlärm nicht an die Tafel schreiben, »so sehr hab ich gezittert«.

Bis heute komme das wieder hoch, »wenn ich ein tieffliegendes Flugzeug hör'«, sagt Rose Laier. Und Ingrid Schwarz ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dankbar, dass er vor einem Jahr nicht eingewilligt hat, dass man Militär in die Ukraine schickt. »Sonst hätten wir den Krieg schon wieder hier.« (GEA)

Die drei Bombenangriffe auf Reutlingen 1945

»Dreimal blutete die Stadt im Eisenhagel und Feuersturm«, schrieb der GEA vor 50 Jahren. Reutlingen sei damals »unmittelbar in das blutige Inferno des Zweiten Weltkriegs hineingerissen« worden. Nun sind die drei schweren Luftangriffe der Alliierten am 15. Januar, 22. Februar und 1. März 1945 sowie weitere kleinere, durch die insgesamt 407 Menschen getötet und 438 verletzt wurden, 8.200 Bürger ihr Heim verloren und 25 Prozent der Gebäude vernichtet wurden, 80 Jahre her. Die Bilanz in Zahlen:
15. Januar 1945: 12.50 Uhr, aus 100 Flugzeugen fallen etwa 1.400 Spreng- und 6.000 Brandbomben. 137 Kinder, Frauen und Männer sterben, 288 werden verletzt, 6.000 sind danach obdachlos. 250 Gebäude werden vollkommen zerstört, 1.300 Häuser mehr oder weniger stark beschädigt. Ziel sind vor allem die Karlstraße und das Bahnhofsgelände, auch in der Wilhelm- und Hohenzollernstraße lodern hunderte Feuer. 16 Fabrikgebäude werden getroffen, darunter Gminder an der Bismarckstraße, Wandel, Farben Bauer, Stoll und das »Deutsche Haus« und die Maschinenfabrik des Bruderhauses.
22. Februar 1945: 11 bis 11.30 Uhr, 30 Flugzeuge werfen rund 300 Sprengbomben ab. 149 Menschen sterben, darunter 76 Frauen und 23 Kinder, 98 werden verletzt. 150 Gebäude sind zerstört, auch das Naturtheater, mehr als 200 schwer beschädigt. Angriffsziel sind die Industrieanlagen in der Alb- und Lindachstraße, getroffen werden wieder überwiegend Wohnviertel.
1. März 1945: 14.05 bis 14.30 Uhr, vier Wellen feindlicher Bomber - etwa 70 Flugzeuge - überfliegen die Stadt und überschütten sie mit zirka 600 Spreng- und 11.000 Stabbrandbomben. 121 Menschen sterben - viele davon im Bahnhofsbunker -, 72 werden verwundet. Von 193 Häusern bleiben nur Trümmerhaufen. Betroffen sind vor allem der Marktplatz mit dem Neuen Rathaus, der Bereich ums Tübinger Tor, untere Wilhelm-, Garten- und Bismarckstraße sowie Bahnhof. »Die Karlstraße und die Liststraße wurden vollends dem Erdboden gleichgemacht«, schreibt der einstige Stadtarchivar Paul Schwarz. (dia)