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Brot-Buch für 525 Euro: Was der Reutlinger Bäcker Hubert Berger dazu sagt

»Modernist Bread« heißt der Sammelband: fünf Bände mit 2.600 Seiten über Brot. Was hält Bäcker Hubert Berger von dem enzyklopädischen Projekt? Eine Buchbesprechung.

Modernist Bread umfasst fünf Bände und ein Rezeptbuch. FOTO: MODERNIST BREAD
Modernist Bread umfasst fünf Bände und ein Rezeptbuch. Foto: MODERNIST BREAD
Modernist Bread umfasst fünf Bände und ein Rezeptbuch.
Foto: MODERNIST BREAD

REUTLINGEN. Dieser Sammelband sprengt jede Dimension: 2 600 Seiten, 1 200 Rezepte, 5 000 Fotos, fünf Bände, 25 Kilogramm, 525 Euro: »Modernist Bread« von Nathan Myhrvold und Francisco Migoya ist 2017 in Amerika und zwei Jahre später im Berliner Phaidon Verlag auf Deutsch erschienen – und die Rezensenten überschlagen sich. »Das Buch ist ein Aufruf an alle Köche, über eines der ältesten Nahrungsmittel der Menschheit nachzudenken – sich damit zu beschäftigen, wie man Brot nicht nur mit Instinkt und Intuition backt, sondern das Bäckerhandwerk voranbringt«, schreibt die New York Times. Und der Spiegel notiert: Das eigentliche Anliegen Myhrvolds sei es, »all seine Intelligenz, sein Geld und seine Zeit dafür aufzuwenden, eine Sache – und sei es ›nur‹ unser täglich Brot – so tief, bis ins letzte Molekül, zu verstehen, wie das auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis nur möglich ist«.

Was aber sagt ein Bäcker über Modernist Bread? Der Reutlinger General-Anzeiger hat sich mit Hubert Berger von der gleichnamigen Vollkornbäckerei über das Mammutwerk unterhalten. Bevor wir ihn aber zu Wort kommen lassen, ein paar Anmerkungen zu den beiden Autoren sowie ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Buches und seinen Inhalt.

Nathan Myhrvold war bis 1999 bei Microsoft Chief Technology Officer und engster Mitarbeiter von Bill Gates, der das Software-Unternehmen 1975 zusammen mit Paul Allen gegründet hat. Die Zeitschrift Foreign Policy hat Nathan Myhrvold 2010 in seine Liste der 100 weltweit wichtigsten Vordenker aufgenommen. Myhrvold ist Erfinder und Autor in den Bereichen Technologie, Paläontologie, Klimatologie, Energie, Bioterrorismus und mehr.

Francisco Migoya ist Co-Autor von Modernist Bread. Er zählt in den USA zu den besten Patissiers und Chocolatiers. Bevor er in Myhrvolds Team kam, war er Professor am Culinary Institute of America. Sein Lehrauftrag umfasste die Themen Brot, feine Backwaren, Gebäck und Kulinarik.

Bäcker Hubert Berger (56) steht seit 2005 an der Spitze des Familienunternehmens.  FOTO: GEA-ARCHIV
Bäcker Hubert Berger (56, Mitte) steht seit 2005 an der Spitze des Familienunternehmens. Foto: GEA-ARCHIV
Bäcker Hubert Berger (56, Mitte) steht seit 2005 an der Spitze des Familienunternehmens.
Foto: GEA-ARCHIV

Nathan Myhrvold hat ein interdisziplinäres Team zusammengestellt, das in Bellevue, Washington arbeitet. Es besteht aus Wissenschaftlern, Köchen, Redakteuren, Fotografen sowie Mitarbeitern für Verkauf und Marketing. Sie alle widmen sich der Aufgabe, die Kulinarik mit Kreativität und Experimentierfreude weiterzuentwickeln. 2011 erschien das ebenfalls fast 2 500 Seiten starke Kochbuch »Modernist Cuisine«, das längst als Standardwerk für die naturwissenschaftlichen Gesetze des Kochens gilt. Dann widmeten sich Myhrvold und Migoya dem Backen von Brot.

»Über vier Jahre lang betrachteten wir Brot aus jeder Perspektive. Wir überlegten uns Experimente, um Grenzen auszuloten, neue Rezepte zu entwickeln, die Legenden der Backwelt zu hinterfragen, die besten Zutaten und Werkzeuge zu finden und die Wissenschaft hinter dem Brotbacken zu begreifen«, sagen Nathan Myhrvold und Francisco Migoya. »Und natürlich backten wir Tonnen von Brot. Wortwörtlich.« Mehr als 36 000 Brotlaibe wurden in die Öfen geschoben.

Diverse Aha-Momente

Band 1 beschäftigt sich mit der Geschichte des Brotes, mit Mikrobiologie, dem gesundheitlichen Aspekt von Brot bis hin zu Wärme, Energie und Physik von Lebensmitteln. In Band 2 geht es um Inhaltsstoffe, über die Verarbeitung von Getreide zu Mehlen, Lockerungs- und Backmittel bis zur Vorbereitung der Zutaten fürs Brotbacken. Band 3 thematisiert Techniken und Ausstattung von der Fermentation und das Kneten von Teigen, deren Aufarbeiten, Endgare, Einschneiden, Backen und Auskühlen der fertigen Brote. Band 4 und 5 beinhalten Rezepte. Dazu gibt es ein Rezeptehandbuch, das einen Überblick und Tipps gibt für jeden Schritt der Brotherstellung, vom Vorbereiten der Zutaten bis zum Abkühlen des fertigen Brotes.

Nathan Myhrvold FOTOS: A. LEE
Nathan Myhrvold Foto: A. LEE
Nathan Myhrvold
Foto: A. LEE

»Es ist eine Enzyklopädie, wie ich sie so noch nicht gesehen habe«, sagt der Reutlinger Bäcker Hubert Berger. »Als ich Modernist Bread das erste Mal in Händen hatte, dachte ich: Was für ein Wälzer. Ein gewichtiges Werk.« Er habe in seinem Berufsleben schon viele Fachbücher gelesen. »Aber ein Buch mit so vielen dicht gedrängten Informationen habe ich noch nicht gehabt. Das Buch geht sehr stark in die Tiefe.« Er sei überrascht gewesen, sagt Hubert Berger, dass auch er mit seiner langjährigen Berufserfahrung viel Neues entdeckt habe. »Als Bäcker denkt man immer, Deutschland ist in Sachen Brot und Backen der Nabel der Welt. Natürlich sind wir führend beim Brot. Wenn man aber den Fokus richtet auf die ganze Welt, dann wird klar, dass wir in Deutschland nur einen kleinen Teil abbilden. Man bekommt ein wenig Demut. Und man merkt, was man nicht weiß.« Das Buch lese man aber nicht von vorne nach hinten. »Man nimmt sich einzelne Segmente heraus.«

Dass es ausgerechnet ein Amerikaner ist, der maßgeblich für ein Buch über Brot verantwortlich zeichnet, hat Hubert Berger nicht überrascht. »Dass Nathan Myhrvold Amerikaner ist, heißt ja nicht, dass er die amerikanische Backkultur vertritt.« Myhrvolds und Migoyas Verdienst sei es, dass sie verborgene Schätze der Backkultur aus vielen Ländern zusammengetragen haben – »ein Schatz an Backwissen, das leider zum Teil verloren gegangen ist. Das Buch zeigt einem, wie viel Brotkultur es gibt. Myhrvold und Migoya haben viel Wissen ausgegraben.« Er habe bei der Lektüre diverse Aha-Momente gehabt. »Ich habe mir das Thema Sauerteig ein wenig näher angeschaut. Ich meine, schon relativ tief in der Materie zu sein und doch musste ich erkennen, dass es auch hier noch viel Neues zu entdecken gibt. Es hat Lust gemacht, tiefer einzusteigen.«

Francisco Migoya
Francisco Migoya Foto: A. LEE
Francisco Migoya
Foto: A. LEE

Auch das Kapitel »Vollkorn« hat Hubert Berger genauer unter die Lupe genommen. »Ich habe bemerkt, dass dieses Thema auch ganz anders interpretiert werden kann, wie ich das mache. Modernist Bread behandelt zum Beispiel Vollkornbrote, die zu einem großen Teil aus getrockneten Früchten bestehen, die ich bislang nicht unter das Thema Vollkorn subsumieren würde. Man muss aber auch hier erkennen, dass es verschiedene Blickwinkel beim Thema Vollkorn geben kann. Es gibt keine richtige oder falsche Betrachtungsweise. Das kann man sich abschminken.«

Dass Nathan Myhrvold und Francisco Migoya amerikanische Mehle verarbeiten, sieht Hubert Berger nicht als Nachteil. »Man kann fast alles ersetzen. Selbst exotische Zutaten. Man muss es halt ausprobieren, ob es funktioniert. Ich würde in eine Mühle gehen und fragen, was kommt an dieses oder jenes amerikanische Mehl heran.« Auch beim Thema »Zusätze« bleibt Hubert Berger entspannt. Ob man darauf verzichtet, sei Einstellungssache. Wichtig sei, die eigene Kreativität ins Spiel zu bringen. »Das ist ja das Schöne nicht nur beim Backen, sondern beim Kochen allgemein.«

Fülle an Informationen

Dass einen die Fülle der Informationen erschlagen kann, räumt Hubert Berger ein. »Für einen Laien, der ein- oder zweimal im Jahr ein Brot bäckt, taugt Modernist Bread nicht. Aber es gibt unter denen, die fürs Brotbacken ein Faible haben, viele Hobbybäcker, die fundiertes Wissen haben. Für sie ist das Buch interessant.« Wer noch nie etwas mit Backen am Hut hatte, solle sich ein einfacheres Buch als Einstieg besorgen.

Dass er sich das Buch kauft, steht für ihn außer Frage. »Auch unsere Lehrlinge haben darin geblättert und waren begeistert.« Dass ein Buch für 525 Euro pfleglich behandelt werden will, ist zwingend. In den Safe kommt es allerdings nicht. »Es macht ja keinen Sinn, das Buch wegzuschließen.« Ob aber die Rezepte von Modernist Bread auch für die heimische Küche taugen, ist Thema eines weiteren Artikels im GEA-Special über Brot. GEA-Kollegin Anja Steffen-Hauser hat sich zwei Rezepte ausgesucht und exakt nach Vorgabe gebacken. Modernist Bread ist übrigens einer der Hauptpreise eines GEA-Gewinnspiels. Mehr Infos dazu und zu den weiteren Preisen gibt es gegen Ende der Serie. (GEA)

 

Nächste Folge Montag, 14. Juni: Wie wird man »Weltbäcker des Jahres«?

 

VOLLKORNBÄCKEREI BERGER VOR 60 JAHREN VON ELISABETH UND HUGO BERGER GEGRÜNDETDIE VOLLKORNBÄCKEREI BERGER

Vor 60 Jahren von Elisabeth und Hugo Berger gegründet

1961 eröffnen Elisabeth und Hugo Berger ihr erstes Bäckereigeschäft am Reutlinger Albtorplatz. Vier Jahre später erfolgt der Umzug in die Wilhelmstraße. Schon 1965 entschließt sich das Ehepaar Berger, verstärkt auf Vollkornprodukte zu setzen. 1978 wird die Backstube erweitert. Ihr Sohn Hubert beginnt 1981 seine Bäckerlehre im elterlichen Betrieb. Es folgen Wanderjahre, die Hubert Berger in Betriebe nach Stuttgart, Tübingen und Friedrichshafen führen. Auch in England und Jugoslawien sammelt Hubert Berger Erfahrungen. 1991 kehrt er in den elterlichen Betrieb, der seit 1986 Mitglied bei Bioland ist, zurück. Im Jahr 2005 übernimmt Hubert Berger die Vollkornbäckerei. Das Unternehmen beschäftigt 100 Mitarbeiter im Hauptgeschäft in der Wilhelmstraße und in fünf Filialen. (GEA)