KREIS TÜBINGEN. Vor zwei Wochen ist Claudia Jochen der Kragen geplatzt. Eine Mitarbeiterin des Arbeitsamtes in Offenbach hatte ihr am Telefon mitgeteilt, dass ihr Antrag auf Arbeitslosengeld abgelehnt werde, denn die Lehrerin sei nicht persönlich in der Behörde erschienen. "Das ist doch ein Witz", sagt Jochen im Gespräch mit dem GEA sauer. "Ich war drei Mal persönlich da um Unterlagen abzugeben – da habe ich jedes Mal meinen Personalausweis zeigen müssen." Doch die Frau vom Arbeitsamt blieb bei ihrer Entscheidung – denn Jochen habe sich ihren Besuch in der Behörde nicht per Stempel quittieren lassen und eine Kopie des Personalausweises läge auch nicht vor. "Da kann ja jeder kommen und sich als Frau Jochen ausgeben", habe die Mitarbeiterin gesagt. "Dann hab’ ich mich so aufgeregt, den Hörer aufgelegt und direkt eine Mail an extra 3 geschrieben", erinnert sich Jochen.
Claudia Jochen ist 45 Jahre alt, wohnt in Mössingen und ist Quereinsteigerin im Lehrerberuf. Jahrelang war die freie Mitarbeit bei mehreren Lokalzeitungen ihr Haupterwerb. 2019 entschied sie sich dann für den Wechsel an die Schule. »Ich hab’ damals in der Zeitung gelesen, dass das Land Lehrer sucht, und mich direkt beim Schulamt gemeldet«, erinnert sich Jochen. Alles lief glatt, sie bekam eine Stelle an einer Mössinger Schule und unterrichtet seitdem Fünft- bis Neuntklässler hauptsächlich in Deutsch.
Eigentlich macht man einen Job, der gesucht ist, aber am Ende kriegt man einen Arschtritt
Claudia Jochen erzählt mit viel Freude von ihrem Beruf. »Man kriegt einfach so viel zurück von den Schülern, das macht viel Spaß und ist erfüllend.« Eigentlich ein Traumjob. Wäre sie nicht jeden Sommer sechseinhalb Wochen lang arbeitslos. Und wäre es nicht enorm nervenaufreibend, überhaupt Arbeitslosengeld für diese Zeit zu bekommen.
Jochen ist eine von 800 Lehrkräften, die im Schuljahr 2021/22 im Regierungsbezirk Tübingen nur über einen befristeten Vertrag angestellt waren. Seit 2015 bewegt sich die Zahl auf einem gleichbleibenden Niveau, sagt Stefan Meißner vom Regierungspräsidium. Zum Regierungsbezirk Tübingen gehören 255 Gemeinden in acht Landkreisen und ein Stadtkreis. Insgesamt gab es im vergangenen Schuljahr in diesem Gebiet 18.945 unterrichtende Lehrer. Heißt: Etwas über vier Prozent der Lehrer hatten einen befristeten Vertrag. Damit liegt der Regierungsbezirk knapp über dem Landesschnitt: Etwa drei Prozent der Lehrkräfte – also etwa 4.200 Stück – haben hier laut Kultusministerium ein befristetes Arbeitsverhältnis. 90 Prozent sind verbeamtet, sieben Prozent unbefristet angestellt.
Monika Stein, die Landeschefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), hatte die befristeten Anstellungsverhältnisse von Lehrern im Juli öffentlichkeitswirksam als »Schande« bezeichnet. Dieser Kritik entgegnet das Kultusministerium, dass sich unter den befristet angestellten Lehrern auch viele Pensionäre befinden, die im Sommer weiter ihre Pension beziehen. Zudem würde das Land einige der befristet angestellten Lehrer ja gerne einstellen. Dazu müssten diese aber »räumlich flexibel sein und auch in Mangelregionen gehen«.
Dazu müssten die Lehrkräfte räumlich flexibel sein und auch in Mangelregionen gehen
Noch ein Grund für befristete Verträge: Lehrer wie Claudia Jochen, die kein Lehramtsstudium absolviert haben, könne man im normalen Verfahren gar nicht dauerhaft einstellen, so eine Ministeriumssprecherin auf GEA-Anfrage.
Claudia Jochen wusste, auf was sie sich einlässt, als sie den ersten Vertrag unterschrieben hat. Und doch empfindet sie die sechseinhalb Wochen Arbeitslosigkeit nicht nur finanziell als enorm belastend. »Diese Unsicherheit, ob man wieder eingestellt wird jedes Jahr, das ist schon ungut.« Erst im Mai oder Juni erfahre sie meist, ob sie auch im kommenden Schuljahr weiter an ihrer Schule unterrichten kann. Das Problem liege nicht auf lokaler Ebene, betont sie: »Mein Rektor ist toll, meine Schule auch.« Vielmehr kranke das ganze System. »Man fühlt sich ausgenutzt, ausgelaugt«, sagt die 45-Jährige. »Eigentlich macht man einen Job, der gesucht und gebraucht ist, aber am Ende kriegt man einen Arschtritt.«
Was ihr zudem nicht in diesem Ausmaß bewusst gewesen sei: Dass die Beantragung des Arbeitslosengeldes so ein »Hickhack« ist. Im ersten Sommer sei sie noch gar nicht berechtigt gewesen. Im zweiten Sommer schlug sie sich mit nicht funktionierenden Passwörtern und stundenlang in Telefonwarteschleifen des Arbeitsamtes herum. Und der dritte Sommer habe alles getoppt, so Jochen: Trotz tagelanger Bemühungen wurde ihr Antrag schließlich abgelehnt – aufgrund des erwähnten, fehlenden Stempels.
Alle befristet angestellten Lehrer in Baden-Württemberg auch über die Sommerferien hinweg fest anzustellen, würde 15 Millionen Euro pro Jahr kosten. Geld, das die Landesregierung aktuell nicht locker machen will. Bei Claudia Jochen stößt das auf Unverständnis: »Die The-Länd-Kampagne hat 21 Millionen gekostet – warum kann man das bezahlen, für die Lehrer reicht das Geld aber nicht?«
Die The-Länd-Kampagne hat 21 Millionen gekostet – warum kann man das dann bezahlen?
Das Kultusministerium betont, dass befristete Verträge eingesetzt werden, »um auf Krankheiten, Ausfälle aufgrund von Schwangerschaften« oder anderen Vertretungsbedarf zu reagieren. Man könne bei Vertragsabschluss noch nicht sagen, ob in den folgenden Schuljahren auch ein Vertretungsbedarf bestehe. Außerdem habe das Land die Hürden für Entfristungen herabgesetzt: Lehrer ohne Lehramtsstudium müssen nur noch 30 Monate beschäftigt sein (zuvor 36). Zudem müssen sie eine gute Bewertung ihres Rektors vorweisen und es muss einen Bedarf an der jeweiligen Schule geben. Für das kommende Schuljahr wurden im Land 173 Verträge entfristet. Im Schuljahr zuvor waren es 116 gewesen.
Bei Claudia Jochen besteht der »Vertretungsbedarf« seit nunmehr vier Jahren. »Es ist völlig verkehrt, vor den Sommerferien Lehrer zu entlassen in die Arbeitslosigkeit, wenn ich weiß, ich brauche sie nach den Ferien händeringend wieder«, kritisiert Gewerkschaftschefin Stein.
Claudia Jochen jedenfalls hat am Donnerstag ihren vierten Vertrag unterschrieben. Für knapp zehn Monate hat sie nun wieder einen gesicherten Job. An ihrem Frust über die bürokratischen Hindernisse hat das wenig geändert. Aber sie wird den Gang zum Arbeitsamt auch im kommenden Sommer wieder auf sich nehmen. Süffisant sagt sie: »An den Stempel denke ich dieses Mal dann auch.« (GEA)