TÜBINGEN. Für Boris Palmer geht es bei der Oberbürgermeisterwahl in der Universitätsstadt Tübingen am kommenden Sonntag um alles. Im Streit mit den Grünen wegen seiner verbalen Aussetzer und einem drohenden Parteiausschluss lässt Palmer die Mitgliedschaft in der Partei bis Ende 2023 ruhen. Es ist ungewiss, ob er den Sprung als unabhängiger Kandidat - und damit im Prinzip gegen seine eigene Partei - in eine dritte Amtszeit schafft.
Ausgerechnet in der Schlussphase des Wahlkampfs teilte Palmer am Freitag mit, er habe sich erstmals mit dem Coronavirus infiziert. Ein PCR-Test sei positiv ausgefallen, schrieb er auf seiner Facebook-Seite. Der Wahlkampf sei für ihn damit erstmal zu Ende. »Am Mittwoch bin ich noch mit Maske auf das «Tagblatt»-Podium. Seither waren alle Schnelltests negativ. Aber der PCR von heute ist positiv. Das war es dann für mich. Nach zweieinhalb Jahren hat es mich nun auch erwischt«, schrieb Palmer.
Der 50-Jährige ist seit 2007 OB. Für die Wahl sind sechs Kandidaten zugelassen. Rund 69 000 Tübingerinnen und Tübinger sind wahlberechtigt. Erlangt niemand die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang, ist ein zweiter erforderlich. Dieser ist für den 13. November 2022 geplant. Dann reicht eine relative Mehrheit aus.
Sollte er im ersten Wahlgang nicht an erster Stelle liegen, werde er im zweiten Wahlgang nicht mehr antreten, kündigte der bundesweit bekannte Politiker kürzlich an. »Denn in den krisenhaften Zeiten, die uns bevorstehen, sollte der oder die OB eine absolute Mehrheit hinter sich haben.« In Krisenzeiten sei es nicht die beste Idee, einen erfahrenen Kapitän auszutauschen.
Mit seinen teils zur Parteilinie der Grünen konträren Ansichten eckte er immer wieder bei der Parteispitze an und sorgte mit seinen Positionen etwa zur Flüchtlings- oder Corona-Politik für bundesweite Aufmerksamkeit. Viele Tübinger schätzen ihn wegen seiner Hartnäckigkeit und seines Pragmatismus.
Palmers wichtigste Konkurrentinnen sind Ulrike Baumgärtner (Grüne) und Sofie Geisel (SPD, von der FDP unterstützt). Ihnen werden gute Chancen zugeschrieben. Die Erfolgsbilanz von Palmer erkennen beide an. Es werde aber zu viel gestritten in der Stadt. Den beiden Frauen geht es um mehr Dialog und mehr Respekt. Öffentlich schmutzige Wäsche gewaschen wurde im Wahlkampf bisher nicht.
Die im Streit um Palmer gespaltenen Grünen in Tübingen hatten im vergangenen Jahr beschlossen, ihren Kandidaten für die OB-Wahl erstmals in einer Urwahl zu bestimmen. Nominiert wurde Baumgärtner, im Wahlkampf von vielen als »liebevoll« beschrieben.
Den Oberbürgermeister kennt die 43-Jährige schon lange. Zwischen Studium und Promotion war die Grünen-Politikerin Palmers persönliche Mitarbeiterin in dessen Zeit als Landtagsabgeordneter. Dann stand sie sechs Jahre der Grünen-Fraktion im Tübinger Gemeinderat vor, als Palmer dort Oberbürgermeister war. Auf einem ihrer Wahlplakate steht »Weniger Rambo, mehr wir«. Wegen Inflation und Energiekrise wirbt sie für ein kommunales Entlastungspaket. Grund- und Gewerbesteuer sollen runter für zwei Jahre.
SPD-Kandidatin Sofie Geisel - sie gehört der Geschäftsführung des Deutschen Industrie- und Handelskammertags an - werden gute Chancen eingeräumt, ein beachtliches Ergebnis bei der Wahl zu erreichen. Die toughe 50-Jährige sagt: »Tübingen steht gut da, aber es ist Zeit für einen Wechsel. Es wird viel gestritten in dieser Stadt, und manchmal fühlen sich Bewohner zu wenig gehört und mitgenommen.« Um den Fachkräftemangel zu bekämpfen, möchte sie zusammen mit der Agentur für Arbeit, der Industrie- und Handelskammer und dem Ausländeramt eine Willkommensagentur auf den Weg bringen, die Menschen unterstützt, die in Tübingen leben und arbeiten wollen. Sie betonte im Wahlkampf immer wieder ihre Führungskompetenzen.
Und Palmer? Auffällig ist vor allem, dass er sich mit provokanten Sprüchen in den sozialen Netzwerken sehr zurückhält. Ihm wird ein autokratischer, egomanischer und rechthaberischer Stil vorgehalten, auch von seinen Unterstützern. Seine Vision ist Prosperität und Lebensqualität, ohne Natur und Klima zu überlasten. 2019 beschloss der Gemeinderat, Tübingen bis 2030 klimaneutral zu machen. Die bei einem Bürgerentscheid gekippte Idee einer Stadtbahn durch die Innenstadt bis hinauf zu den Kliniken möchte Palmer erneut zur Diskussion stellen mit geänderter Streckenführung. Der angespannten Wohnraumsituation mit 500 neuen Wohnungen pro Jahr und einer Mietpreisbremse begegnen.
Weitere Kandidaten sind Markus Vogt (Die Partei), Sandro Vidotto (unabhängig) und Frank Walz (unabhängig). Die CDU Tübingen schickte keinen eigenen Kandidaten ins Rennen und sagte, für keinen der Kandidaten eine Wahlempfehlung abgeben zu wollen. (dpa)