REUTLINGEN. Glauben Sie an Wunder? Vielleicht hilft folgende Geschichte bei der Antwort: Ein obdachloser Mann sammelt Flaschen. Tag für Tag. In der Kälte, zwischen Müll und Dreck. Etwa 800 bis 2.500 Stück. So lange, bis 200 Euro Pfand zusammenkommen. Für manche sind das ein Paar Schuhe, für andere ein Abendessen. Für ihn ist es ein kleines Vermögen. Er hat es nicht geschenkt bekommen, sondern unter besonders widrigen Umständen hart erarbeitet. Bestimmt hätte er das Geld selbst gut gebrauchen und seine Lebenssituation kurzfristig etwas verbessern können. Und dennoch behält er die Summe nicht. Er spendet sie an einen Verein für alleinerziehende Mütter. Sein Wunsch: Die Frauen sollen ein schönes Weihnachtsfest haben.
Wenn wir über Wunder sprechen, dann meinen wir damit in der Regel Ereignisse, die den Naturgesetzen widersprechen und deshalb unmittelbar auf das Eingreifen einer göttlichen Macht oder von übernatürlichen Kräften zurückzuführen sind. Wie in der Bibel: Das Rote Meer teilt sich. Wasser wird zu Wein. Blinde können sehen. Essen vermehrt sich. Tote werden wieder lebendig. Doch ein Wunder kann auch etwas sein, das durch sein Maß an Vollkommenheit das Gewohnte, Erwartete, Übliche so weit übertrifft, dass es uns warm ums Herz wird, zum Staunen bringt, sprachlos zurücklässt. So wie diese großzügige Tat jenes Obdachlosen, die sich vor einigen Tagen in Stuttgart ereignet und bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat.
Eine Parallele zur Weihnachtsgeschichte
Vielleicht berührt uns diese Geschichte deshalb so sehr, weil sie einer anderen Erzählung ähnelt, die wir jedes Jahr an Weihnachten hören. Auch sie handelt nicht in erster Linie von einem Gott, der sämtliche Geschicke in seiner ganzen Allmacht lenkt, sondern von Menschen, die mehr geben als man von ihnen erwarten durfte. Von Maria, einer jungen Frau, die Ja sagt zu einer Aufgabe, die ihr Leben auf den Kopf stellt. Von Josef, einem jungen Mann, der bleibt, obwohl Weggehen einfacher gewesen wäre. Von Hirten, die ihre Arbeit vernachlässigen und damit ihren Lebensunterhalt riskieren, nur um einem kleinen Kind Ehre zu erweisen. Und von Fremden aus einem fernen Land, die großzügig schenken, trotz der Gewissheit, dass sie nichts Vergleichbares zurückbekommen werden.
Die Geburt von Christus wird oft als Wunder bezeichnet. Doch in der Weihnachtsgeschichte sind es letztendlich die uneigennützigen Taten von Menschen – vielleicht durch den Glauben an einen Gott inspiriert – die dieses Wunder überhaupt ermöglichen. Durch das Ja zu einer Aufgabe, die man sich nicht ausgesucht hat. Durch das Aufbrechen ins Ungewisse. Durch das Teilen dessen, was man eigentlich selbst gut gebrauchen könnte. Auch der obdachlose Mann aus Stuttgart hat nicht hilflos in den Himmel gestarrt und gewartet, dass sich seine Probleme auf übernatürliche Weise lösen. Oder, dass jemand anderes, dem es deutlich besser geht, den alleinerziehenden Müttern ein frohes Fest beschert.
Für einen Moment eine hellere Welt
Und vielleicht ist genau das die Frage, die diese beiden Geschichten uns heute stellen. Nicht, ob wir an Wunder glauben, sondern ob wir bereit sind, für andere selbst eines zu werden. Im stressigen Alltag fünf Minuten Zeit zu investieren, für jemanden, der einsam ist. Selber auf etwas zu verzichten, um anderen eine Freude zu machen. Einem überlasteten Kollegen Hilfe anzubieten. Als Erwachsener die Eltern mit in den Urlaub zu nehmen. Oder der gestressten Servicekraft das schönste Lächeln zu schenken und zu sagen, dass sie einen tollen Job macht. Nichts davon verändert die Welt komplett. Aber für manche macht es sie für einen kleinen Moment etwas heller.

