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Aktuell Verfolgung

Zeugen Jehovas erinnern an Opfer des Nationalsozialismus in Reutlingen und Tübingen

Ernst Wauer war Student in Tübingen, als die Gestapo ihn verhaftete. Neun Jahre wurde er in Gefängnissen und Konzentrationslage
Ernst Wauer war Student in Tübingen, als die Gestapo ihn verhaftete. Neun Jahre wurde er in Gefängnissen und Konzentrationslagern misshandelt. Foto: Zeugen Jehovas
Ernst Wauer war Student in Tübingen, als die Gestapo ihn verhaftete. Neun Jahre wurde er in Gefängnissen und Konzentrationslagern misshandelt.
Foto: Zeugen Jehovas

REUTLINGEN. Der 27. Januar 1945 war der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und der beiden anderen Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs. Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust wurde der 27. Januar von den Vereinten Nationen im Jahr 2005 erklärt. Neben Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Kranken und Behinderten, Kritikern und Widerständlern wurden auch die Zeugen Jehovas Zielscheibe des Nazi-Regimes. Von den circa 25.000 Zeugen Jehovas, die 1933 in Deutschland lebten, wurde fast jeder Zweite von den Nationalsozialisten verfolgt. Insgesamt kamen europaweit rund 1.800 zu Tode. An Opfer in der Region und die Umstände ihrer Verfolgung erinnern die Zeugen Jehovas in Reutlingen.

Hitlergruß abgelehnt

Da Jehovas Zeugen sämtliche politisch motivierten Aktionen ablehnten, darunter auch den »Hitlergruß«, gerieten sie schnell ins Visier der Gestapo. Sie verweigerten menschenverachtende Hasstaten gegen ihre Mitmenschen, die in dieser Zeit besonders gegen Juden an der Tagesordnung waren. Auch gegen das staatliche Verbot ihrer Religionsausübung, das schon 1933 verhängt wurde, widersetzten sie sich. Brutale Hausdurchsuchungen, Schikanen sowie grausame Verhöre in den Einrichtungen der Gestapo wurden für sie bald alltäglich, so Norbert König, der Medien-Beauftragte der Zeugen Jehovas in Reutlingen. Viele hätten ihre Arbeit verloren, etwa 9.000 wurden inhaftiert. »Tatsächlich gehörten die Bibelforscher, wie Jehovas Zeugen damals genannt wurden, zu den ersten Häftlingen, die in den Konzentrationslagern ankamen«, so König.

König schildert das Schicksal von zwei Glaubensgenossen: Ernst Wauer, der am 9. November 1993 im Alter von 91 Jahren in Tübingen gestorben ist, wurde wegen seiner religiösen Überzeugung als Zeuge Jehovas von den Nationalsozialisten neun Jahre eingesperrt. Im Herbst 1936 wurde der gebürtige Berliner, der als Jurastudent ein paar Semester in Tübingen belegt hatte, von der Gestapo verhaftet. »In den Gefängnissen in Freiberg und Bautzen, wo er zeitweise in Einzelhaft saß, organisierte Wauer heimlich Versammlungen mit seinen Glaubensgenossen. Später wurde er im Konzentrationslager Sachsenhausen mit harter Arbeit, Schlägen und Essensentzug misshandelt.«

Im Frühjahr 1940 kam er in das KZ Neuengamme, wo es ihm zusammen mit anderen inhaftierten Zeugen Jehovas gelungen sei, Abschriften der Zeitschrift »Der Wachtturm« anzufertigen. Für die Nationalsozialisten sei Ernst Wauer ein gefährlicher Rädelsführer gewesen, der mit dem Tod bestraft werden sollte. Weil das KZ Neuengamme am 2. Mai 1945 von den amerikanischen Truppen befreit wurde, entging er seiner Hinrichtung.

Alfred Stüber, 1904 in Reutlingen geboren, ließ sich 1924 als Zeuge Jehovas taufen. Obwohl Zeugen Jehovas zu den Ersten gehörten, die in den meisten deutschen Ländern verboten wurden, konnten in Reutlingen bis 1935 Gottesdienste abgehalten werden – die Letzten in der Stickerei Grub in der Gartenstraße. In Betzingen, im Wasen, wurde bei Alfred Stüber die Zeitschrift »Der Wachtturm« vervielfältigt. Das Gebäude befand sich gegenüber einer Polizeistation, sodass große Vorsicht geboten war. Schließlich wurde Alfred Stüber am 6. Oktober 1937 verhaftet. Zuerst in Stuttgart inhaftiert, wurde er schließlich ins KZ Buchenwald gebracht, wo er über acht Jahre verbringen musste. Nach der Befreiung des KZ Buchenwald im April 1945 kehrte er nach Reutlingen zurück.

Kinder »regimetreu« erzogen

Auch vor den Kindern der Zeugen Jehovas machten die Nationalsozialisten keinen Halt: Viele wurden von der Schule verwiesen. Manchen Eltern entzog man das Sorgerecht für ihre Kinder, um sie in »regimetreuen« Familien großzuziehen.

Da sie den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigerten, wurde an den zeugen Jehovas ein Exempel statuiert: 337 wurden wegen »Wehrdienstverweigerung« zum Tode verurteilt, davon 282 hingerichtet. In der DDR sowie in der gesamten Sowjetunion wurden Jehovas Zeugen auch nach 1945 weiter verfolgt. Tatsächlich sind sie seit 2017 in Russland wieder verboten; 104 sitzen dort derzeit aufgrund ihrer Religionsausübung Haftstrafen ab. »Auch in unserem unmittelbaren europäischen Umfeld gibt es leider wieder diskriminierende Strömungen, die gegen Jehovas Zeugen vorgehen«, so Norbert König. (eg)