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Aktuell Prozess

Reutlinger will in Mädchenzimmer klettern und stürzt ab - Arbeitsunfall

Ein Jugendlicher aus dem Kreis Reutlingen will vor sieben Jahren in ein Mädchenzimmer einer Jugendherberge im Zollernalbkreis klettern. Dabei stürzt er ab. Diesen Sturz wertet das Landessozialgericht in Stuttgart nun als Arbeitsunfall. Wie es zu dieser Einschätzung kommt.

Justitia
Eine Statue der Justitia steht mit Waage und Schwert in der Hand. Foto: Arne Dedert/dpa/Symbolbild
Eine Statue der Justitia steht mit Waage und Schwert in der Hand. Foto: Arne Dedert/dpa/Symbolbild

STUTTGART. Er wollte nicht, dass ein spaßiger Abend nach einem Azubi-Seminar schon zu Ende ist. Mit anderen Teilnehmern saß ein Jugendlicher aus dem Kreis Reutlingen vor sieben Jahren im Mädchenzimmer einer Jugendherberge im Zollernalbkreis in feuchtfröhlicher Stimmung zusammen. Nachdem der Abend von einem Betreuer für beendet erklärt worden war, startete der damals 17-Jährige den Versuch, in das Mädchenzimmer zurückzuklettern. Auf dem Dach verlor er allerdings den Halt und stürzte aus acht Metern Höhe ab. Sieben Jahre später hat das Landessozialgericht in Stuttgart diesen Sturz nun als Arbeitsunfall anerkannt. 

Der Jugendliche brach sich im November 2014 mehrere Knochen, unter anderem an der Wirbelsäule, dem Becken und am Oberarm. Nach diversen Operationen hat er heute immer noch massive Bewegungseinschränkungen am linken Arm. Nach dem Unfall zahlte die Berufsgenossenschaft (BG) dem Geschädigten zunächst 2.600 Euro, forderte diese nach einer Überprüfung aber wieder zurück. Die BG erkannte den Sturz nicht als Arbeitsunfall an, da der Kletterversuch in keinem Zusammenhang mit der Tätigkeit als Teilnehmer eines Seminars gestanden sei. Der Geschädigte klagte dagegen. Nachdem der Fall durch mehrere Instanzen gegangen war, hat das Landessozialgericht nun die Berufung zurückgewiesen und dem Reutlinger Recht gegeben. »Es ist Teil eines gruppendynamischen Prozesses unter Jugendlichen und Ausdruck alterstypischer Unreife«, heißt es über den Vorfall in der Urteilsbegründung.

Man habe »Blödsinn gemacht«

Das Landessozialgericht beschreibt die Geschehnisse so: Der lernbehinderte Kläger aus dem Kreis Reutlingen war im November 2014 im Rahmen seiner Ausbildung zum Fachpraktiker Hauswirtschaft bei einer Einführungsveranstaltung in der Jugendherberge im Zollernalbkreis. Am ersten Abend besuchte der damals 17-Jährige mit seinem Zimmergenossen erlaubterweise drei Mädchen im Nachbarzimmer. Es wurde »Blödsinn gemacht, Musik gehört und gequatscht«, auch heimlich Alkohol getrunken. Der Reutlinger trank zwei Wodka-Orange. Nachdem ein Betreuer um 23 Uhr den Abend für beendet erklärt hatte, kündigte der Jugendliche an, zurückzukommen. Die Mädchen hielten das für einen Scherz und glaubten, dass er »das sowieso nicht machen« werde. Der 17-Jährige, dem seine Betreuerin ein Streben nach »Coolness« (»Hahn im Korb«) attestierte, machte seine Ankündigung aber wahr - zumindest versuchte er es. Um 23.30 Uhr öffnete er das Fenster seines Zimmers und kletterte auf das Dach der Jugendherberge. Dann stürzte er aus dem dritten Stockwerk in die Tiefe.

Das Landessozialgericht schreibt in seiner Urteilsbegründung, dass der Geschädigte bei »allen Verrichtungen während des Einführungsseminars« unfallversichert gewesen sei, »die in innerem Zusammenhang mit der Ausbildung standen«. Dazu gehöre auch das Klettern über das Dach der Jugendherberge, auch wenn das Verhalten »in hohem Maße vernunftwidrig und gefahrbringend« war. Aus Sicht des Gerichts liegt ein »jugendtypisches« Verhalten vor, indem der Reutlinger versuchte habe, den Abend »zu verlängern«. Der vom 17-Jährigen zugegebene mäßige Alkohol-Konsum - bei ihm wurden 0,5 Promille gemessen - lasse den Versicherungsschutz ebenfalls nicht entfallen. (GEA)