REUTLINGEN. Damit hatten die sechs Nachwuchs-SPDler, die an diesem Freitagmorgen in der bitteren Kälte stehen, dann nicht mehr gerechnet: Der Mann, gegen dessen Partei sich ihr Protest richtet, wird ihnen praktisch direkt vor die Nase gefahren. Um 10.25 Uhr fährt ein schwarzer BMW mit Münchener Kennzeichen auf den Vorplatz der Stadthalle. Besucher, die den Auftritt von FDP-Chef Christian Lindner sehen wollen, sind zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu sehen, sie alle warten schon im kleinen Saal der Stadthalle auf den Stargast des Tages. Nur noch ein Dutzend Polizisten steht vor der Halle, dazu die Personenschützer des Bundeskriminalamts. Der BMW hat noch nicht mal vollständig gehalten, da öffnet sich schon die Hintertüre. Nahezu mühelos steigt Christian Lindner aus, wirft sich sein Sakko über. Ein lässiges »Morgen« in die Reihe der Pressevertreter, dann fällt sein Blick auf die Holzstange zwischen den Jungsozialisten: »Ach süß, die Jusos sind auch da.«
Das sind sie - und zwar schon seit 9.30 Uhr. Mit einem Protest gegen die FDP, der durchaus kreativ ist: Mit einem Tennisball kann man die Holzklotz-Brandmauer einwerfen, wer beweglich ist, kann sich im 5-Prozent-Limbo versuchen. Doch im Vergleich zum Protest bei Lindners Besuch in Tübingen ist die Menge der Demonstranten extrem klein. »Klar, in Tübingen herrschen bei Demos andere Verhältnisse als in Reutlingen«, weiß auch Finn Schäfer, der Kreisvorsitzende der Jusos. Also gehen er und seine wenigen Mitstreiter schließlich aktiv auf die Menschen zu, die auf Einlass warten. FDP-Urgestein Hagen Kluck, der sich bekanntlich für keinen Spaß zu schade ist, macht natürlich mit - und bringt die Holzklotz-Brandmauer mit zwei gezielten Würfen zum Einsturz.
Der Reutlinger FDP-Bundestagsabgeordnete Pascal Kober dagegen findet's weniger witzig. »Ich finde das unmöglich. Es herrscht ein vergiftetes politisches Klima, und das kommt von links«, sagt er. Das Signal, das durch solche scheinbar harmlosen Störaktionen gesendet werde, sei fatal. »Stören wird so zu einem probaten Mittel. Und eigentlich sollten wir doch den politischen Austausch suchen.« Auch Christian Lindner lächelt nur professionell milde, als er von Juso-Chef Schäfer angesprochen wird. Er will vor der Halle keine Holzklotz-Brandmauer einwerfen und verabschiedet sich mit einem süffisanten Kommentar: »Ist ganz gut, wenn Demokraten respektvoll miteinander umgehen.«
»Ich glaube, dass es Herrn Lindner darum geht, auf diesem Weg vor der Wahl noch die letzten Prozente rauszuquetschen«
Finn Schäfer und die Jusos stören sich am Weg, den die FDP unter Lindner eingeschlagen habe. Die Jungsozialisten ärgert beispielsweise, dass die FDP - "gegen ihr eigenes Wahlprogramm" - zusammen mit der CDU blockiert habe, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr als Straftaten behandelt werden. Auch das Einreißen der sogenannten Brandmauer zusammen mit der CDU sei ein großer Fehler gewesen. »Ich glaube, dass es Herrn Lindner darum geht, auf diesem Weg vor der Wahl noch die letzten Prozente rauszuquetschen«, sagt Schäfer. Er kritisiert ein zunehmendes "Anbiedern" an die CDU. Für die SPD hofft Schäfer "natürlich auf das Beste" bei der Wahl, das hieße so "17 bis 18 Prozent - und ich hoffe, dass die Grünen das auch kriegen".

In der Stadthalle arbeitet sich Christian Lindner vor einem alterstechnisch bunt gemischten Publikum dann an den Linken ab. Ob Störer in der Menge seien, fragt er ironisch. Nein? »Okay, gut. Es ist halb 11, da ist die linke Szene von Reutlingen auch noch nicht aufgestanden.« Er betont, dass die FDP weiterhin die AfD bekämpfen wolle - »aber mit den richtigen Mitteln. Und ich glaube nicht, dass Lichterketten helfen, diese Partei kleinzumachen«. Störer treten an diesem Morgen nicht in Erscheinung. Nachdem das bei anderen Lindner-Auftritten passiert war, hatte der FDP-Stadtverband vorsorglich zusätzliches Security-Personal für den kleinen Saal der Stadthalle angefordert. (GEA)