REUTLINGEN. »Entenschiss«, »der Wächter bläst vom Turme« und »Nackets Luisle« – morgen fallen in Reutlinger Wirtshäusern wieder die Würfel und Begriffe, die für Auswärtige Böhmische Dörfer sind. Wie immer am ersten Donnerstag nach den Heiligen drei Königen ist Mutscheltag, in Bäckereien und Kneipen wird »gemutschelt«.
Die Würfel fallen in den Kneipen und werden von teils erstaunlichen Gruppen geworfen. So mutschelt brauchtumsgemäß der Reutlinger Gemeinderat ab 19 Uhr in der Traditionskneipe »Gerberstüble«. Weil die Würfelspiele immer wieder auch Teamgeist erfordern, tun sich die erstaunlichsten Konstellationen auf. Plötzlich mutscheln Parteien mit- und gegeneinander, die sonst das genaue Gegenteil machen – in Berlin wie in Reutlingen gleichermaßen und sehr zur Freude der Stadträte aller Fraktionen.
»Drom schmeckt e Mutschel halt zom Woi«
Eine Mutschel, das ist übrigens ein mürbes Weißbrotgebäck. Acht Zacken umgeben einen geflochtenen Kranz, und in der Mitte ist eine würfelförmige Erhebung, die den Reutlinger Hausberg Achalm darstellen soll. Verkauft werden sie aber längst nicht mehr nur am »Öbersten«, dem Reutlinger Stadtfeiertag, eben am ersten Donnerstag nach den Heiligen drei Königen.
Eine Mutschel wird allerdings nicht einfach aufgegessen – um sie wird kunstvoll gewürfelt, denn das Würfeln ist die eigentliche Mutscheltradition. Für ein vernünftiges Mutscheln braucht man mindestens drei Würfel, Würfelbecher, eine Schiefertafel und Kreide (Papier und Stifte gehen zur Not auch). Und natürlich etwas zu trinken, denn der Mürbteig ist eine eher trockene Angelegenheit.
Und so weiß schon der Tübinger Mundartdichter Heinz Eugen Schramm zu berichten: »Drom schmeckt e Mutschel halt zom Woi so donderschlächtig guat.« Ohne sein Viertele macht dem Reutlinger das Mutscheln jedenfalls keine rechte Freude.
Die wenigen urig-schwäbischen Gasthäuser, die es in der Achalmstadt noch gibt, sind schon seit Wochen ausgebucht, aber auch in ganz gewöhnlichen Bistros und anderen Kneipen frönen die Gäste dem Mutscheln. Unzählige Varianten gibt es inzwischen, von denen viele ein bisschen an Kindergeburtstag erinnern: Mal gewinnt, wer die höchsten Zahlen würfelt, mal gewinnt der mit den niedrigsten. Beim »langen Entenschiss« zählen nur die Zahlen 1, 2 und 3, bei »Der Wächter bläst vom Turme« wird der Würfel vom umgestülpten Würfelbecher gepustet.
Gespielt wird, bis auch der Letzte am Tisch eine Mutschel abbekommen hat. Denn sonst könnten sich die Männer nicht nach Hause trauen, wie der Dichter weiß: »Z’letzt aber brengt e’ jeder Ma (Sonst kämt er glei ans Britt) Seim Weib, seim Schatz, e Mutschel halt als Drache-fuatter mit.«
Wie alt das Mutscheln eigentlich ist, weiß keiner so genau. Alte städtische Unterlagen berichten schon um das 13. Jahrhundert vom Familiennamen Mutschler – ob das ein besonders guter Mutschelbäcker oder ein besonders guter Mutschelwürfler war, ist allerdings nicht überliefert. Vermutlich ist die Tradition aber noch viel älter. Im frühen Mittelalter wurde um die Mutscheln wohl noch ein Wettschießen ausgetragen.
Wie fast alle Traditionen kämpft allerdings auch das Mutscheln gegen die Moderne, bedauern Heimatforscher. Statt sich das Gebäck in der Kneipe bei Wein und Fleischsalat ehrlich zu erwürfeln, haben die jungen Leute von heute eine viel einfachere Methode gefunden: Sie gehen in eine Bäckerei, kaufen eine Mutschel, tunken sie in den Kaffee und essen sie auf. (pr)