REUTLINGEN. »Grün, grün, grün« – damit ist eigentlich alles gesagt, was man über Orschel-Hagen wissen muss. Ganz am Anfang eines Films über die Gründerjahre der Gartenstadt sagt Siegfried Bastian diese drei Worte, hinter denen sich unterschiedliche Lebensgeschichten verbergen. Orschel-Hagen, die grüne Gartenstadt, ist voller Einzel-Geschichten. Und die sind zu hören und zu sehen am Sonntag, 10. November, um 18 Uhr in der katholischen Kirche Sankt-Andreas, die unter anderem auch damit ihr 50-jähriges Bestehen feiert. Autor des Films ist der Reutlinger Journalist Raimund Vollmer. Der Eintritt ist frei.
Die einen – wie beispielsweise Thomas Draxler oder Bettina Hartmann – nennen sich Ur-Orschel-Hagener: Kindergarten, Schule, Kirche, Jugendzeit. Die anderen haben erst als Erwachsene ihre Heimat hier gefunden, kamen »berufsbedingt« hierher wie zum Beispiel die Familien Göttler oder Fetzer.
Endlose Kette parkender Autos
Während sie Grundeigentum erwarben, leben andere wie Siegfried Bastian seit einem halben Jahrhundert in derselben GWG-Etagenwohnung zur Miete. Er würde sein Zuhause niemals gegen ein Eigenheim tauschen. Er ist Vertriebener, der einfach nur bleiben will. Dieses Schicksal teilt er mit vielen anderen in Orschel-Hagen.
Vertreibung ist auch der Hintergrund der Familie Pauler, die zwar hier nicht wohnt, aber 1966 ein Textil- und Modegeschäft im Einkaufszentrum eröffnete. Ein echtes »Startup« damals. Und da ist Robert Trost, der als leitender Angestellter der GWG einige Jahre hier lebte und sogar den siebten Bauabschnitt managte. Ob im Hochhaus oder im Eigenheim, ob zur Miete in einem Mehrfamilienhaus oder als Ladengeschäft – die Menschen in der Gartenstadt eint seit mehr als einem halben Jahrhundert das überall gegenwärtige Grün – und inzwischen die endlosen Ketten an parkenden Autos. Auch wenn die in diesem achtzigminütigen Film porträtierten Menschen nur einen Ausschnitt aus dem prallen Leben der 1960 gegründeten Gartenstadt Orschel-Hagen wiedergeben, so zeigen sie dennoch in ihren Erinnerungen und Kommentierungen, wie viel Vitalität nach wie vor in diesem künstlich angelegten Ortsteil Reutlingens steckt.
»Es ist die Vielfalt der Schicksale, die die Menschen hier eint«, meint der katholische Pfarrer Dietmar Hermann, der gemeinsam mit dem Kirchengemeinderat von Sankt Andreas das Filmprojekt unterstützte. Er hat vor fünf Jahren die Nachfolge von Richard Kappler angetreten, der die Gemeinde fast sein ganzes Leben lang leitete und begleitete. Die Menschen, die in Raimund Vollmers Film zu Wort kommen, werfen Schlaglichter auf eine Siedlung, die ein Verwaltungsbericht der Stadt Reutlingen 1965 als »Krönung der Großbauprogramme«, als »geschlossenen Organismus«, lobte.
Mehr Garten als Stadt
Gebhard Fetzer erzählt vom Bau der Kirche, deren Entstehen er fotografisch festhielt; Robert Trost stellt das Konzept vor, das die Stadt Reutlingen mit Orschel-Hagen verfolgte; Inge und Manfred Göttler zeigen, wie sie und ihre Kinder zu einer Eigentumswohnung im Hochhaus Brandenburg kamen; Bettina Hartmann und Thomas Draxler führen die Zuschauer zurück in Kindheit und Jugend der Sechziger- und Siebzigerjahre. Und welche Situationen Vertriebene meistern mussten, um ihren Lebensweg zu finden, erzählen Siegfried Bastian und Christa Pauler.
Orschel-Hagen war oder ist für diese Menschen immer noch Lebensmittelpunkt – ein Lebensmittelpunkt, dessen Gegenwart sich auch aus Erinnerungen speist. Dass die evangelische Kirchengemeinde Jubilate anfangs ihre Glocken auch für Sankt Andreas läuten ließ, gehört genauso dazu wie die Vorgabe, dass im Einkaufszentrum nur Gründer, keine Filialbetriebe geduldet wurden. Oder dass Kindheit und Jugend hier reichlich Platz hatten und einen trotzdem die Ruhe nachts nicht schlafen ließ: Orschel-Hagen, der Stadtteil, der längst mehr Garten ist als Stadt. (eg)