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»FAIRBecher« aus Reutlingen für die Justizvollzugsanstalt

Reutlinger Maschinenbau-Studierende entwickeln Kaffeebecher mit und für Strafgefangene

Hoch die Tassen – oder vielmehr Becher: In der Werkstatt wurde viel an den »FAIRBechern« getüftelt.  Foto: Hochschule
Hoch die Tassen – oder vielmehr Becher: In der Werkstatt wurde viel an den »FAIRBechern« getüftelt. Foto: Hochschule
Hoch die Tassen – oder vielmehr Becher: In der Werkstatt wurde viel an den »FAIRBechern« getüftelt. Foto: Hochschule

REUTLINGEN. Hinter den Mauern und Gittern der Justizvollzugsanstalt (JVA) Heimsheim werden auch ganz praktische Dinge für den Alltag produziert. Damit wird ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag zur Resozialisierung straffällig gewordener Menschen geleistet. Die schulische und berufliche Aus- und Weiterbildung spielen eine wichtige Rolle im Vollzugswesen, damit die Insassen nach Verbüßung ihrer Strafe erwerbstätig werden und in ein geregeltes Leben zurückfinden können.

»Wir bieten unter anderem vier bis sechs Ausbildungsplätze zum Maschinen- und Anlagenführer«, erklärt Johannes Schmidt, Ausbildungsleiter in der JVA Heimsheim. 2017 lernte er auf der Fachmesse Moulding Expo Professor Dr.-Ing. Steffen Ritter von der Hochschule Reutlingen kennen – ein Mann der Praxis mit vielen Ideen, der gemeinsam mit seinen Master-Studierenden schon viele innovative Projekte auf den Weg gebracht hat – vom Flaschenöffner bis zum dreiteiligen To-Go-Essbesteck. Für den Ausbildungsleiter also genau der richtige Mann. Schmidts Idee: Ein Bio-Plastikbecher für Strafgefangene, der in der Werkstatt der JVA Heimsheim produziert werden kann.

Schön und gefängnistauglich

Und hier beginnt die Geschichte: formschön, alltags- und gefängnistauglich. Von Anfang an war wichtig, dass der zu entwickelnde Kaffeebecher im Alltag einen echten Nutzen bringt. So hieß es nach einer ausführlichen Marktanalyse 80 handelsüblicher Becher durch die Masterstudierenden für diese: »Ab in die Zelle« – denn wo lässt sich besser herausfinden, was es braucht, als am Ort des Geschehens?

In der engen Zelle mit begrenzten Abstellmöglichkeiten wurde ihnen das schnell klar und es entstanden überraschende Ideen, anhand derer vielleicht schon bald die Blechtasse auch in anderen Gefängnissen abgelöst werden könnte. Mit ihren Erkenntnissen aus erster Hand machten sich die Studierenden an die Produktentwicklung: Schritt für Schritt wurden für den »FAIRBecher« erst einmal über 50 Prototypen im 3D-Verfahren hergestellt und bis ins letzte Detail analysiert und getestet.

Zum Beispiel wurde die Dicke der Rippen an der Becher-Außenseite mithilfe einer Thermographiekamera geprüft. Anschließend galt es, die Produktionsbedingungen zu klären und das passende Spritzgießwerkzeug zu konstruieren. Dafür konnte der Pforzheimer Werkzeugbauer Proform gewonnen werden. Bislang hatte die JVA in ihrem Ausbildungsbetrieb noch kein Heißkanalwerkzeug. Damit die Gefangenen in ihrer Ausbildung etwas dazu lernen, hatte man sich ganz bewusst dafür entschieden. Bei der Konstruktion des Werkzeugs wurden weitere JVA-spezifische Ansprüche berücksichtigt, beispielsweise, dass das Werkzeug bei Farbwechseln leicht zu reinigen ist, ohne dabei die Werkzeugstrukturen zu beschädigen. Immerhin sind die Strafgefangenen Anfänger in ihrer Ausbildung.

Als Ergebnis entstand der FAIRBecher mit einer pfiffigen Geometrie aus dem Rohstoff Arboblend, der nachwachsend und biologisch abbaubar ist. Glas oder Keramik schieden als Bechermaterial wegen ihrer Zerbrechbarkeit aus. Isolationsrippen am FAIRBecher sorgen dafür, dass man sich nicht die Finger verbrennt, da Banderolen durch die Hohlräume zur Schmuggelgefahr werden könnten. Der Griff ist so geformt, dass man den Becher kopfüber abstellen kann, damit er besser abtropft, trocknet und auch als Henkel genutzt werden kann. Der »T-Cut« dient als Teebeutelhalter, weil die Insassen viel Tee trinken. Und der Becherrand ist schon so geformt, dass handelsübliche To-Go-Deckel passen, wenn die Produktion über die Mauern hinaus expandieren sollte.

Für Professor Dr.-Ing. Steffen Ritter war es »eine für die Studierenden unschätzbar wertvolle Erfahrung, bei der sie echte Produktionsprozesse mit echten Problemen und echtem Zeitplan durchleben«. Schön ist auch, dass sich mit dem FAIRBecher der Kreislauf schließt: Mittlerweile gibt es ein ganzes Picknick-Set von den angehenden Ingenieuren der Hochschule Reutlingen – vom Flaschenöffner, dem 3-2-eat-Essbesteck über die Vesperbox »MEX BOX« bis hin zum neuen FAIRBecher.

Alles Ideen und Umsetzungen direkt aus dem Hörsaal in Kooperation mit den richtigen Partnern für die Praxis, die sich einig sind: Ein sinnvolles Projekt, bei dem es nicht nur um einen Plastikbecher geht.

Im Vordergrund steht die soziale Komponente. Es macht alle stolz und das gegenseitige Kennenlernen auch der Menschen im Strafvollzug ist für die Beteiligten eine nachhaltige und faire Begegnung. »Fair« steht für Umwelt und Soziales, für Nachhaltigkeit mit einem aus Bio-Kunststoff spritzgegossenen Kaffeebecher mit To-Go-Deckel sowie fairen Chancen und einem fairen Umgang miteinander. Darauf heben wir die Becher! (GEA)