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Aktuell Schmerz

Wie eine Reutlinger Gruppe gegen Einsamkeit kämpft

In einer neu gegründeten Gruppe tauschen sich Betroffene über ein Gefühl aus, das sie als Stigma empfinden.

Oh, du Unselige: Gerade die Weihnachtszeit wird von vielen Einsamen als besonders schmerzlich empfunden.
Oh, du Unselige: Gerade die Weihnachtszeit wird von vielen Einsamen als besonders schmerzlich empfunden. Foto: Jens Büttner/dpa/dpa
Oh, du Unselige: Gerade die Weihnachtszeit wird von vielen Einsamen als besonders schmerzlich empfunden.
Foto: Jens Büttner/dpa/dpa

REUTLINGEN. Die Stimmung im Nebenraum des »Alten Bahnhofs« ist locker. Es wird geredet und gelacht. Alle duzen sich. Alle scheinen die Gemeinschaft auf eine ganz besondere Art zu genießen.

Ein Klassentreffen? Freunde, die zusammen feiern? Nein, was die Menschen in dieser Gruppe verbindet, ist ihr Einsamkeitsgefühl. Und: Der Mut, sich in der Gruppe zu outen. Denn Einsamkeit werde in der Gesellschaft »als Stigma« empfunden, sagen viele am Tisch. Menschen haben Beziehung, Familie, Freunde zu haben. Das ist das »Normale«. Das andere ist eine Art soziales Scheitern. Das fühle sich an wie »du bist nicht Ordnung«, sagt eine am Tisch. »Ich schäme mich dafür«, eine andere. Viele wollen deshalb ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, nicht einmal den Vornamen. Sie möchten auf keinen Fall identifiziert werden.

»Ich schäme mich für meine Einsamkeit«

Gabriele Widmann hat die offene Gruppe mit dem Arbeitstitel »Vereint gegen Einsamkeit« (der abschließende Name wird noch gesucht) gegründet. Über mehrere kleine Zeitungsanzeigen im GEA – stets nur ein paar Zeilen – hat die Reutlingerin jetzt schon große Resonanz gefunden. Unterdessen treffen sich seit Oktober zweimal im Monat ein gutes Dutzend Frauen und ein Mann zum Einsamkeit-Bekämpfen. Nach der jüngsten Anzeige haben sich schon wieder fünf Interessierte gemeldet.

Offener Stammtisch

Wer Lust hat, die Gruppe Vereint gegen Einsamkeit kennenzulernen, kann dies beim Stammtisch tun, zweimal im Monat im Pfullinger Bahnhof. Gabriele Widmann bittet um vorherige Anmeldung. Der beiden nächsten Termine sind am 10. und 24. Januar, jeweils ab 18.30 Uhr in der Pfullinger Gaststätte »Alter Bahnhof« angesetzt. (GEA)
vereint-gegen-einsamkeit@gmx.de

»Eine solche Gruppe liegt am Puls der Zeit«, glaubt die 55-jährige Initiatorin und verweist auf das Einsamkeitsbarometer des Bundesfamilienministeriums (siehe Artikel unten). Eigenes Erleben war Initialzündung für die Gruppengründung. Die Eckdaten ihres Weges in die Einsamkeit: Als Unternehmensberaterin viel im Homeoffice, Sohn erwachsen, Corona nagte am Freundeskreis. Die Beziehung ging in die Brüche. »Was hast Du denn zu verlieren?«, ermunterte sie eine Freundin. »Ich wollte raus aus der Anonymität. Und ich bereue es keinen Moment.«

Neben den Treffen in der Gaststätte, werden gemeinsame Unternehmungen geplant. Um den Roßberg sind schon welche gemeinsam gelaufen. Im Januar will ein Sechsertrupp in Stuttgart das Ballett »Schwanensee« anschauen. Auch gegenseitige Unterstützung ist ein Thema: vom Hundehüten bis zum Rasenmähen. Ursprünglich war auch ein gemeinsames Weihnachtsfest geplant. Eine kleinere Gruppe wird tatsächlich zusammen feiern. Ein größeres, für alle Einsamen offenes Fest ist aber laut Gabriele Widmann nun doch aufs kommende Jahr verschoben. Die meisten, die an diesem Abend in der Gaststätte sitzen, sind zwischen 60 und 70 Jahre alt. Karin ist mit 79 die Älteste. Sie hat schon in einer anderen Gruppe ihr Glück versucht. Zehn Leute, die, wie sie erzählt, »Missstimmung« wieder auseinanderbrachte.

Einsam werden ist »ein Prozess«, sagen alle. Die Umstände ändern sich. Trennung vom Partner, die Kinder gehen aus dem Haus. Der Lauf der Zeit vergrößert Einsamkeit: Kontakte gehen verloren, Freunde ziehen weg, werden krank. »Im Alter kommt hinzu, dass man nicht mehr so vital ist«, sagt Karin. Und es werde auch immer schwieriger, Beziehungen aufzubauen.

»Alle hocken zusammen, und ich gehöre nicht dazu «

Nur um nicht mehr allein zu sein, werden unpassende Beziehungen eingegangen, weil man bereit sei, Kompromisse einzugehen. Und dann sind da Eifersuchtsängste im Umfeld, die sich durchaus freundschaftshemmend auswirken können: Spannt die Solofrau der Freundin vielleicht den Gatten aus?

Vielen am Tisch ist der Partner gestorben. Klaus ist bisher der einzige Mann in der Gruppe. Vor sechs Jahren hat er seine Freundin verloren. Der 57-Jährige spricht offen über seine »leere Bude«, darüber, wie es sich anfühlt, allein am Vierertisch im Hotel am Tisch zu sitzen und das Gefühl zu haben, von allen angestarrt zu werden. »Einsamkeit macht antriebslos«, sagt Klaus auch und mit der Zeit nehme die Angst vor Ablehnung immer weiter zu.

Beate ist vor vier Jahren der Partner gestorben. Mitten in der einsamkeitsbefördernden Corona-Zeit. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit kämpft sie – wie viele am Tisch – verstärkt mit dem Alleinsein, auch wenn sie über einen Freundeskreis verfügt: »Alle hocken zusammen, und ich gehöre nicht dazu.«

Rund ums Jahr seien die Sonntage die schwersten Tage. »Morgens um 11 Uhr sind alle verplant.« Oft will sie auch einen stillen Vorwurf heraushören. »Da kommt immer: Mach doch mal was.«

»Ich bin viel unterwegs, aber wenn ich heimkomme, wird es dunkel «

Was machen die Betroffenen? Was hilft? Der Fernseher, der Hund, der auch schon mal im Bett mitschlafen darf. Gute Freunde. Unternehmungen. »Ich bin viel unterwegs«, sagt eine, »aber wenn ich heimkomme, wird es dunkel.«

Doch die Anwesenheit des Lichts korreliert offensichtlich nicht in allen Fällen mit der Anwesenheit von Menschen: Eine in der Runde fühlt sich allein – trotz Ehemann. Trotz Kindern und Enkeln. Einsamkeit hat viele Facetten. (GEA)