REUTLINGEN. Die Sonne scheint, aber dennoch liegt ein Schatten über der Innenstadt. Sollte über sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mitten in Reutlingen eine immer noch gefährliche Bombe liegen?
Um 6.30 Uhr bittet die Reutlinger Stadtverwaltung zum Pressetermin auf die Baustelle. Vor Ort sind mehr um die öffentliche Sicherheit besorgte Menschen von Stadt, Feuerwehr und Polizei als Bauarbeiter. Kamerateams und Fotografen richten ihre Objektive auf einen grünen Bagger. Auf der Karlstrasse parkt der große Einsatzleitungs-Bus der Feuerwehr Reutlingen. Klar, das ist keine normale Baustelle, und das wird auch kein normaler Sonntag.
Bei der Arbeit sind Fachleute der Augsburger Firma Geomer Kampfmittelbergung, die laut Selbstdarstellung »bundesweit Kampfmittelprojekte aller Art« bearbeitet. Die Augsburger haben auch in Reutlingen mit einer so genannten Bohrlochsondierung den verdächtigen Metallgegenstand geortet. »Wird beim Abteufen einer Bohrung mit nachfolgender Messung eine Anomalie festgestellt, sollten diese freigelegt und identifiziert werden«, beschreiben die Augsburger auf ihrer Website das Untersuchungsverfahren. Genau diese Freilegung und Identifizierung passiert nun.
»Es ist nicht ganz eindeutig, jede Menge Einbauten hier«, erklärt Philip Jäger von Geomer die Lage. Gegraben werde jetzt über drei Meter tief mit einem Durchmesser der Grube von mehreren Metern.
Die Grabung wird komplizierter als gedacht. Erst rutscht nach gut einer Stunde Erdreich in die Grube, dann muss ein Öltank gesichert werden. Schließlich müssen die Fachleute einen Betonschacht der Telekom absichern, unter dem der verdächtige Gegenstand geortet wird. Das Piepsen der Metallsonde ist eindeutig, aber um was es sich handelt auch um 9.30 Uhr noch unklar.
So friedlich harmlos wie der Fundort heute wirkt, so sehr kommt jetzt die Erinnerung an die Bombardierung Reutlingens wieder hoch. »In den ersten Monaten des Jahres 1945, als sich die militärische Niederlage Deutschlands längst abzeichnete, wurden Reutlingen mit den direkten Folgen des alliierten direkt Konfrontiert«, schreibt Ute Ströbele in ihrem Beitrag für den Katalog zur Ausstellung von Heimatmuseum und Stadtarchiv Reutlingen zum 50. Jahrestag des Kriegsendes.
»Drei schwere Bombenangriffe führten zur Zerstörung ganzer Straßenzüge mit Toten und Verletzten«, stellt Ströbele fest. Allierte Bomber haben beispielsweise am 15. Januar 1945 etwa 1400 Sprengbomben und rund 6000 Brandbomben auf die Stadt abgeworfen. Am 1. März des letzten Kriegsjahres waren es 600 Spreng-und 1100 Stabbrandbomben. Ziel war erneut die Gegend um den Bahnhof. Der ist um die Ecke der Baustelle der FairEnergie.
Luftbilder der Alliierten aus dem Krieg, über die heute der Kampfmittelbeseitigungsdienst verfügt, haben deshalb den Verdacht genährt, dass es sich bei dem Metallgegenstand um einen Blindgänger handeln könnte. Auf die dramatischen Folgen haben sich Stadt Reutlingen, Polizei, Feuerwehr, Rotes Kreuz, Rettungsdienst und viele andere seit Tagen vorbereitet: Die Evakuierung der Innenstadt im Umkreis von mehreren hundert Meter rund um den Fundort.
Das Ergebnis der Freilegung soll so bald wie möglich bekannt gegeben werden. Dann heißt es entweder »Einsatz beendet«, oder »Räumung beginnen«. (GEA)