STUTTGART/MÜNSINGEN. Jetzt ist offiziell bestätigt, was seit gut einer Woche schon für Schlagzeilen sorgt: Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) will 18 Notfallpraxis-Standorte schließen. Von den Plänen betroffen ist auch die unterm Dach der Münsinger Albklinik angesiedelte Notfallpraxis. Damit ändert sich für Patienten nicht nur in Münsingen, sondern auf der ganzen Alb Einiges. Notfallpraxen decken die Versorgungszeiträume außerhalb der regulären Sprechzeiten der Hausärzte ab. Wer also künftig am Wochenende oder spät abends ein medizinisches Problem hat, das nicht warten kann, bis der Hausarzt wieder offen hat, aber auch nicht unbedingt ein akuter Fall für den Rettungsdienst oder die Notaufnahme in der Klinik ist, wird sich umorientieren müssen. Im Kreis Reutlingen wird es künftig nur noch eine Notfallpraxis geben – die am Reutlinger Steinenberg-Klinikum. Für Patienten auf der Alb kommen – je nach Wohnort – auch Ehingen oder Sigmaringen in Frage.
»Offen ist noch, zu welchem Zeitpunkt wir die Praxis in Münsingen schließen, sicherlich aber nicht vor dem 1.4.2025, da bis dahin bereits die Dienstpläne geschrieben sind«, schreibt die KVBW in einem Brief, der an die Landtagsabgeordneten des Wahlkreises Hechingen-Münsingen sowie an Landrat Ulrich Fiedler, den Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck und den Münsinger Bürgermeister Mike Münzing adressiert ist. Sowohl auf Landkreisebene als auch in der Stadt Münsingen hatte sich bereits vor der offiziellen Verlautbarung der Pläne Widerstand auf breiter Basis geregt. Bei Bürgern, Politikern und bei Hausärzten stoßen die Pläne der KVBW auf Kritik und Widerstand. Bereits vor der offiziellen Verlautbarung hatten sich Bürgermeister Mike Münzing, Dr. Eberhard Rapp als Sprecher der Münsinger Ärzteschaft, Landtagsabgeordnete und Landrat Ulrich Fiedler offen zum Thema geäußert. Auch jetzt erhält der Standort Münsingen enorme Rückendeckung, die Schließung wollen weder Ärzte noch Politiker kampflos hinnehmen.
Infoveranstaltung
Die Bürgerinitiative Albklinik lädt am Mittwoch, 6. November, 19.30 Uhr, alle Interessierten zur Info-Veranstaltung im Saal des Gasthofs Herrmann am Münsinger Marktplatz ein. Die Referenten und Gesprächspartner stehen noch nicht fest, angefragt wurden laut Dr. Eberhard Rapp Vertreter aller Parteien sowie der Kreiskliniken. Zugesagt habe bereits Florian Wahl. Der SPD-Landespolitiker ist Vorsitzender des Sozialausschusses. (ma)
Die KVBW begründet ihre Neustrukturierung vor allem mit akuten Personalproblemen: Schon heute seien 1.125 Arztsitze nicht besetzt, mehr als 2.000 Ärztinnen und Ärzte in den Praxen seien über 65 Jahre alt und stünden deshalb unmittelbar vor dem Ruhestand. »Uns ist bewusst, dass diese Maßnahme einen Einschnitt für die Bevölkerung bedeutet und teilweise mit längeren Fahrtwegen verbunden ist. Wir halten die Maßnahme dennoch für vertretbar, zumal rein statistisch jeder Einwohner im Land den Bereitschaftsdienst nur alle paar Jahre einmal in Anspruch nimmt. Ebenso bitten wir zu berücksichtigen, dass der Bereitschaftsdienst nur für eine Überbrückungsbehandlung außerhalb der Regelversorgung und nicht für Notfälle zuständig ist.« Künftig wird es 57 allgemeine und 32 fachärztliche Bereitschaftspraxen im Land geben.
Landkreis setzt Hoffnungen in Münsinger Konzept
Weiterhin gebe es einen flächendeckenden Fahrdienst für Hausbesuche. Ein wichtiger Baustein in der Versorgungsstruktur sei die Telemedizin, die bereits aufgebaut worden sei und künftig noch weiter ausgebaut werden soll. Konkret: Es gibt Online- und Telefonsprechstunden. Ob diese auch im »Münsinger Konzept« eine verstärkte Rolle spielen – Hinweise aus internen Kreisen gehen in diese Richtung -, ist offen. Landrat Ulrich Fiedler hatte diesen Begriff im Zusammenhang mit einem Schreiben der Landrätinnen und Landräte der betroffenen Landkreise an Gesundheitsminister Manne Lucha Ende vergangener Woche eingeführt.
Das Schreiben hat auch Landrat Dr. Ulrich Fiedler unterzeichnet. Den Kreis Reutlingen und Kreiskliniken sieht er in einer Vorreiterrolle: »Im Landkreis Reutlingen wollen wir den ärztlichen Bereitschaftsdienst der Zukunft erproben. Gemeinsam mit den Kreiskliniken haben wir der KVBW ein zukunftsfähiges Konzept vorgestellt, mit dem die ambulante Notfallversorgung auch im ländlichen Raum sichergestellt und gesteuert werden kann - ohne lange Fahrtzeiten. Unsere Lösung wollen wir bereits im nächsten Jahr am Standort in Münsingen erproben. Nach dem erfolgreichen Pilotbetrieb bei uns im Landkreis könnte das Münsinger Konzept potenziell auf das gesamte Land ausgerollt werden. Dazu stehen wir bereits in engem Austausch mit KVBW und Sozialministerium.«
Details dazu, was sich hinter dem Begriff »Münsinger Konzept« verbirgt, gab es auch am Montag auf Nachfrage nicht von Seiten des Landratsamts. Nur so viel in einem schriftlichen Statement: »Wir sind weiterhin zuversichtlich, dass wir zusammen mit der KVBW eine konstruktive und zukunftsorientierte Lösung für den Standort Münsingen entwickeln können. Wir sehen großes Potenzial in dem von Landkreis und Kreiskliniken Reutlingen eingebrachten Vorschlag und werden dazu weitere Gespräche führen.«
In der Kreistagssitzung – ebenfalls gestern - informierte Fiedler auch die Kreisräte und zeigte sich etwas weniger optimistisch als in seiner schriftlichen Stellungnahme: »Mir fehlt der Glaube daran, dass wir die Entscheidung der KVBW noch umkehren können.« Daran zu rütteln werde er aber weiterhin versuchen. Mit dem Münsinger Konzept, zu dem er keine weiteren Details nannte, wolle man sich auf den Fall vorbereiten, dass es bei der Schließung der Notfallpraxis in Münsingen bleibt. Es gehe um zukunftsfähige Modelle, auch im Hinblick auf die flächendeckende ärztliche Versorgung der Patienten, denn immerhin seien 41 Prozent der niedergelassenen Ärzte 60 Jahre und älter.
Donth und Hailfinger kritisieren KV-Pläne
Rückendeckung erhält die Münsinger Notfallpraxis auch von Politikern auf Landes- und Bundesebene. Der Bundestagsabgeordnete Michael Donth und der Landtagsabgeordnete Manuel Hailfinger, beide CDU, wenden sich in einem gemeinsamen Schreiben an Minister Lucha. Die geplante Schließung in Münsingen sei »unverantwortlich« und deshalb »in keiner Weise akzeptabel«. An Wochenenden und Feiertagen sei sie von 10 bis 16 Uhr erste Anlaufstelle für Patienten und decke dabei nicht nur die Stadt Münsingen mit ihren 15.000 Einwohnern, sondern auch »weite Bereiche der dünn besiedelten Schwäbischen Alb im Kreis Reutlingen und darüber hinaus« ab.
Donth und Hailfinger fürchten, dass sich durch die Schließung ein bestehendes Problem noch verschärft: »Schon heute stellen wir bei unseren Kreiskliniken fest - das schreiben wir auch als Mitglieder des Aufsichtsrates der Kreiskliniken Reutlingen - , dass viele Patienten vor allem auch an den Wochenenden und Feiertagen in den Notaufnahmen der Kreiskliniken Reutlingen aufschlagen, die dort an der falschen Stelle sind. Viele von ihnen gehören gerade nicht in eine Klinik, sondern in eine Praxis eines niedergelassenen Arztes. Das führt zu Überlastung, zu deutlich höheren Kosten und Defiziten bei den Kliniken. Und es führt zu großem Unmut und Frustration bei den Menschen, die das Krankenhaus tatsächlich brauchen und auch bei denen, die dort arbeiten. Das System der Notfallpraxis am Standort und in den Räumen der Klinik, wie wir es im Kreis eingeführt haben, hat sich bewährt. Dieses müsste zur Reduzierung der Fehlnutzung der Notaufnahmen eher noch gestärkt als reduziert werden.«
In ihre Argumentation beziehen die beiden CDU-Politiker auch die »Schaffung und Gewährleistung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land« ein: »Die Menschen auf dem Land zahlen die gleichen Beiträge, Abgaben und Steuern wie in der Stadt.« Nicht nur ein spezifisches Land-, sondern insbesondere ein typisches Alb-Problem thematisieren nicht nur die beiden Abgeordneten. Auch für Dr. Eberhard Rapp, der als Arzt für die Münsinger Notfallpraxis zuständig und zudem als Gemeinderat politisch aktiv ist, ist die geografische Lage ein schlagendes Argument, das die KVBW bei ihrer Entscheidung zu wenig berücksichtigt habe. Nicht nur die Entfernung, auch die Topografie – Stichwort Albsteigen – und winterliche Straßenverhältnisse spielen aus seiner Sicht eine entscheidende Rolle, um die Erreichbarkeit von Notfallpraxen zu beurteilen. In Münsingen sei noch diese Woche eine Treffen geplant, bei dem man sich über weitere Schritte klar werden wolle.
Münsinger Ärzte stehen hinter der Notfallversorgung
Konkret im Raum stehen »althergebrachte Mittel« wie eine Unterschriftenaktion, so Rapp. Man wolle entsprechende Listen in allen Praxen und Apotheken auslegen. Daran beteiligt seien nicht nur Kommunalpolitiker und Mitglieder der Bürgerinitiative (BI) Albklinik, in deren Reihen in diesen Tagen wieder verstärkt Zulauf verzeichnet worden sei. Auch die Ärzteschaft in Münsingen und in den umliegenden Gemeinden habe die Entscheidung der KVBW »ziemlich aufgebracht«. Rapp sieht die Kollegen geschlossen hinter sich stehen: »Sie finden, glaube ich, keinen, der will, dass man die Notfallpraxis komplett dicht macht.« Die KVBW ist zwar der Berufsverband der Ärzte. Das bedeute aber nicht, dass man automatisch in allen Punkten gleicher Meinung sei, betont Rapp. »Sie vertreten unseren Berufsstand und unsere Interessen. Sie sind aber auch unsere Chefs, die uns sagen, wo es lang geht – und in diesem Fall wollen wir nicht ganz mitziehen, wir sind uns wirklich uneinig, was die Notfallpraxis angeht«, beteuert der Münsinger Arzt.
Wenig Hoffnung machen die verhaltenen Töne aus dem Gesundheitsministerium. Manne Lucha reagiert auf die Proteste in einer Pressemitteilung: "Wir müssen ehrlich sein zu den Bürgerinnen und Bürgern und ihnen reinen Wein einschenken: Ohne Veränderungen geht es angesichts knapper werdender personeller und finanzieller Ressourcen nicht. Wenn wir die ambulante Regelversorgung dauerhaft sicherstellen wollen, brauchen wir auch eine Neustrukturierung der Bereitschaftsdienste.
Dazu gehört, dass knapper werdende Ressourcen gebündelt werden müssen und nun die Wege zu den ärztlichen Bereitschaftspraxen teilweise länger werden." Den demografischen Wandel, die bevorstehende Verrentungswelle in der Ärzteschaft und den zunehmenden Wunsch nach Teilzeitarbeit bei Medizinern sowie den zunehmenden Ärztemangel könne man schlicht nicht ignorieren. Es gehe nun darum, die vorhandenen Ressourcen effizient einzusetzen. "Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass künftig auch bei uns der Grundsatz gilt: digital vor ambulant vor stationär. Deshalb ist es richtig und zukunftsweisend von der KV, heute ein entsprechendes Standortkonzept vorzulegen", so Lucha. (GEA)