MÜNSINGEN. Die brisante Nachricht ist Freitag durchgesickert, bevor sie, wie aus gut informierten Kreisen zu erfahren war, am 21. Oktober auf einer Pressekonferenz verkündet werden sollte: Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) will im kommenden Jahr 18 Notfallpraxis-Standorte schließen. Betroffen ist auch Münsingen. Die Notfallpraxis, die den hausärztlichen Notdienst abdeckt, ist in der Albklinik angesiedelt und derzeit, nachdem in Bad Urach mit der Ermstalklinik auch die dortige Notfallpraxis Mitte des Jahres 2023 geschlossen wurde, neben Reutlingen der einzige verbliebene Standort im Kreis Reutlingen.
Dass die KVBW eine Reform des ärztlichen Bereitschaftsdienstes außerhalb der Praxisöffnungszeiten der niedergelassenen Ärzte plant, war grundsätzlich kein Geheimnis und bereits seit Längerem bekannt. Ziel sollte eine Konzentration auf weniger Standorte sein, um sowohl die Versorgungssicherheit als auch die Attraktivität des Arztberufs auf dem Land zu verbessern. Wann und welche Standorte geschlossen werden, war bislang aber offen. Nun ist klar: Das Schließungskonzept wurde am Freitag einem Teil der Abgeordneten des Landtags präsentiert. Die Bürgermeister der 18 betroffenen Kommunen sind bereits dabei, sich zu vernetzen und laufen Sturm gegen die Pläne.
Münsingen ist gut ausgelastet
Auch Münsingens Bürgermeister Mike Münzing hat bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Beschluss der KVBW doch noch zu kippen. Hintergrundgespräche mit Landrat Ulrich Fiedler und den Kreiskliniken habe es bereits gegeben, die Landtagsabgeordneten des Wahlkreises seien informiert, so Münzing. Aus seiner Sicht ist der zentrale Standort auf der Alb unverzichtbar, die Argumentation der KVBW kann weder er noch Eberhard Rapp nachvollziehen. Rapp spricht sich sowohl aus fachlicher als auch aus kommunalpolitischer Perspektive gegen die Pläne der KVBW aus. Er ist nicht nur Hausarzt und offizieller Leiter der Münsinger Notfallpraxis, sondern auch Gemeinderat und teilt Münzings Sichtweise.
Was aus der KVBW-Präsentation für die Landtagsabgeordneten hervorgeht: Künftig soll es in jedem Stadt- und Landkreis noch mindestens eine Notfallpraxis geben - und zwar ausschließlich dort, wo es auch ein Krankenhaus mit Notaufnahme gibt. Dieses Kriterium ist in Münsingen erfüllt. Ganz totgesagt ist der Standort also noch nicht, denn in der Präsentation der KVBW heißt es auch: Es könne pro Stadt- und Landkreis auch mehrere Standorte geben, wenn sie aus Kapazitätsgründen benötigt werden. Dass eine Notwendigkeit gegeben ist, sehen Münzing und Rapp absolut so. Die Notfallpraxis sei ausgelastet und geografisch günstig gelegen. Das gilt seit der Schließung des Standorts Bad Urach noch mehr als zuvor, die Patienten aus dem Ermstal fahren eher auf die Alb als nach Reutlingen, meint Rapp.
18 Standorte fallen
Neben Münsingen will die KVWB mutmaßlich 17 weitere Notfallpraxisstandorte schließen. Das geht aus internen Dokumenten, die Betroffenen sind Eberbach, Ettlingen, Schwetzingen, Brackenheim, Backnang, Neuenbürg, Ellwangen, Calw, Herrenberg, Kirchheim, Oberndorf, Wolfach, Müllheim, Albstadt, Bad Saulgau, Achern und Tettnang. (ma)
Die KVBW hat des Weiteren - auch das geht aus den internen Informationen hervor, die aus der Unterrichtung der Landtagsabgeordneten kolportiert wurden - Kriterien für die Erreichbarkeit von Notfallpraxen festgelegt. Demnach soll gewährleistet sein, dass 95 Prozent der Bevölkerung innerhalb von 30 Minuten eine Praxis mit dem Pkw erreichen können, in 100 Prozent aller Fälle soll das zumindest innerhalb von 45 Minuten möglich sein. Für die Menschen, die bisher nach Münsingen kommen, erfüllen dieses Kriterium die Standorte in Reutlingen und Ehingen, je nach Wohnort auch Sigmaringen. Für die Patienten auf der Albhochfläche ist das trotzdem suboptimal, findet Rapp und bringt besondere Faktoren wie winterliche Straßenverhältnisse, lange Überlandstrecken und Steigen ins Spiel - zu den Zeiten, die die Notfallpraxen abdecken, können diese Umstände aus seiner Sicht zu unzumutbaren Belastungen werden.
CDU-Abgeordneter Hailfinger sagt Unterstützung zu
Belastung ist auch ein Stichwort, das die KVBW in ihrer Argumentation mit Blick auf die Ärzteschaft anführt, weiß Rapp. Man wolle die immer weniger werdenden Ärzten entlasten - eine Begründung, die Rapp so nicht gelten lassen will. Zwar ist jeder niedergelassene Arzt verpflichtet, sich im Bereitschaftsdienst einzubringen. Aber zum einen ist es möglich, die Einsätze zu reduzieren, indem man Dienste an Kollegen abgibt, die freiwillig in den Notarztpraxen mitarbeiten. Das sind beispielsweise Klinikärzte und Ruheständler. Und zum anderen habe bereits eine Reform vor einigen Jahren deutliche Verbesserungen mit sich gebracht: Die Einteilung nach Notfallbezirken fiel weg, statt dessen wurden Dienste landesweit gemeindeübergreifend frei eingeteilt. »Früher war es so, dass es auf der Alb wenige Ärzte gab, die viele Dienste machen mussten. In Reutlingen gab es viele Ärzte, die entsprechend wenige Dienste hatten. Das ist jetzt viel gerechter, jeder hat jetzt etwa gleich viele Dienste im Jahr, unabhängig vom Ort«, so Rapp. Vier seien es im Schnitt, sagt Rapp, der auch für die Dienstpläne zuständig ist - eine aus seiner Sicht absolut zumutbare Anzahl an Einsätzen.
Als Landtagsabgeordneter aus dem Ländlichen Raum stellt sich Manuel Hailfinger (CDU) ohne Wenn und Aber auf die Seite von Münzing, Rapp und der Bürgermeister der anderen betroffenen Gemeinden. Hailfinger war, wie auch Rudi Fischer (FDP), bei der Informationsveranstaltung der KVBW dabei. Die KVBW habe zum Abgeordneten-Frühstück am Donnerstag um 7.30 Uhr geladen, berichtet Hailfinger. Gezeigt wurde unter anderem eine Karte, auf der die Standorte, deren Schließung beabsichtigt ist, verzeichnet sind. Auch der Zeitplan sei vorgestellt worden, der Prozess solle im April beginnen und zum Jahresende abgeschlossen sein. Er sei völlig überrascht gewesen, betont Hailfinger im GEA-Gespräch, das Thema habe »bisher keinerlei Aufschlag« bei ihm gefunden - und bei seinen Kollegen auch nicht.
»Das Entsetzen war ringsum groß, denn das Thema betrifft ja zahlreiche Wahlkreise«, sagt der CDU-Abgeordnete mit Wohnsitz in Sonnenbühl. Aus allen Fraktionen sei Widerstand spürbar gewesen: »Ich glaube deshalb nicht, dass das Thema schon zu Ende besprochen ist.« So schnell wie möglich wolle die CDU einen Vertreter der KVBW zur Fraktionssitzung einladen. Und auch in der Sitzung des Gesundheitsausschusses, dem Hailfinger angehört, am 23. Oktober stehe das Thema auf der Tagesordnung.
FDP-Mann Rudi Fischer hält Neustrukturierung für unumgänglich
Die KVBW habe Argumente, die er auch nachvollziehen könne. Als Abgeordneter und Mitglied des Aufsichtsrats der Kreiskliniken sieht Hailfinger aber ein ähnliches Problem wie Bürgermeister Mike Münzing: »Wenn die Notfallpraxis schließt, geht das zulasten des Rettungsdiensts und der Klinik-Notaufnahmen - irgendwo müssen die Leute ja hin.« Denn wenn es eilt oder keine längeren Wege in Kauf genommen werden wollen oder können, ist die Notfallpraxis in Ehingen oder Reutlingen eben keine reelle Option. Der Vorschlag der KVBW geht aus seiner Sicht »ganz klar auf Kosten des Ländlichen Raums, das ist so nicht akzeptabel«. Schon heute seien laut einer Studie drei Prozent der Bevölkerung im Land medizinisch unterversorgt, die Schwerpunkte seien Schwäbische Alb und Schwarzwald. Durch Karl Lauterbachs Gesundheitsreform, in deren Fahrwasser Hailfinger auch die Bemühungen der KVBW sieht, erhöhe sich der Prozentsatz auf sechs.
Der FDP-Abgeordnete Rudi Fischer gibt sich diplomatisch und äußert grundsätzlich Verständnis für die Argumentation der KVBW. »Ich bin eigentlich nicht verwundert«, sagt Fischer im GEA-Gespräch. »Die Ärzte fehlen überall, wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen.« Der demografische Wandel mache sich überall bemerkbar, auch - aber nicht nur - im Bereitschaftsdienst. Für ihn ist klar: »Eine Neustrukturierung steht an, sie wird und muss kommen. Ich erkenne an, dass Veränderungen aufgrund des fehlenden Personals nötig sind.« Es gehe nun darum, aufgrund von Zahlen, Daten und Fakten mit allen Beteiligten lösungsorientiert an das Thema heranzugehen - allerdings so, »dass es für die Gesellschaft nicht zu einem größeren Kahlschlag führt«. Was ist leistbar, was nicht? »Wir sind noch am Beginn der Diskussion«, glaubt Fischer, dass es noch Verhandlungsspielräume gibt, »die Kompromisse sind im Detail zu treffen«.
Landrat und Kreiskliniken sind mit KVBW im Gespräch
Und wie steht der Landrat zum Thema? Dr. Ulrich Fiedler gibt auf Anfrage folgendes Statement ab: »Eine hochwertige und verlässliche Gesundheitsversorgung unserer Bürgerinnen und Bürger hat für uns Priorität. Zum Bereitschaftsdienst im Landkreis Reutlingen führen wir gemeinsam mit den Kreiskliniken deshalb intensive Gespräche mit der KVBW und haben einen konstruktiven Vorschlag gemacht. Wir sind zuversichtlich, dass wir mit der KVBW auch für den Standort Münsingen eine zukunftsorientierte Lösung finden werden.«
KVB-Pressesprecher Kai Sommer hält sich auf eine Nachfrage zur geplanten Schließung bedeckt: »Wir sind aktuell dabei, den Ärztlichen Bereitschaftsdienst im Land neu zu strukturieren. Wir werden demnächst unsere Pläne der Öffentlichkeit vorstellen. Alle Spekulationen um Standorte oder mögliche Schließungstermine wollen wir aktuell nicht kommentieren und können sie daher weder bestätigen noch dementieren.« (GEA)