ST. JOHANN/LICHTENSTEIN. Die schlichte Meldung des baden-württembergischen Umweltministeriums schlägt Wellen: Am Montag und am Dienstag wurde ein Wolf in St. Johann beziehungsweise in Lichtenstein gesehen.
Die Forstwissenschaftliche Versuchanstalt in Freiburg (FVA) hat die Sichtungen bestätigt. In St. Johann lief ein Wolf am Montag in die Fotofalle eines Jägers. Am Dienstag wurde ein Wolf von zwei Jägern unabhängig in St. Johann und in Lichtenstein beim sommerlichen Ansitz auf Bock und Sau mit dem Smartphone gefilmt.
Ob es sich in allen drei Fällen um dasselbe Tier handelte, ist nicht sicher, sagt Wolfsexperte Felix Böcker von der FVA: »Die Vermutung liegt aber nahe.« Rein mit Bilddokumenten kann ein einzelnes Tier nicht sicher identifiziert werden, sagt Böcker. Dazu wären DNA-Nachweise notwendig. DNA-Spuren können zum Beispiel aus Kotproben entnommen werden, oder wenn vom Wolf gerissene Tiere gefunden werden.
Junger, sportlicher Wolf ohne Scheu
Die Jäger sind der Meinung, dass es sich um ein junges, »sportliches«, Tier handelt. Der Wolf habe wenig Scheu an den Tag gelegt und sich einige Zeit in Sichtweite aufgehalten – wie die Dauer der Filmaufnahmen belegt.
Ende April hat ein Wolf bei Ehingen und bei Illerrieden solche Spuren hinterlassen. Ein Lamm und ein Reh fielen ihm zum Opfer. Allerdings waren die Proben schon so degeneriert, dass nicht mehr bestätigt werden konnte, dass es sich um ein und dasselbe Tier handelte.
Vor allem junge Wölfe wandern allein weite Strecken. Böcker kann sich aber auch vorstellen, dass mehrere Tiere in losem Kontakt in einer Region unterwegs sind.
Die DNA-Spuren, die bei Ehingen sichergestellt wurden, reichten nicht für einen genetischen Fingerabdruck. Die FVA konnte aber feststellen, dass der Wolf wahrscheinlich aus dem Norden hergewandert ist: Die ersten Wolfsrudel konnten in Deutschland im Nordosten Sachsens heimisch werden. Sie gehören oder gehörten zur mitteleuropäischen Flachlandpopulation, die von der Mitte Polens bis nach Niedersachsen heimisch ist. Die Gründertiere trugen den in Nordost-Europa häufig vorkommenden Haplotyp HW01. Der ist nach wie vor der häufigste Wolf-Haplotyp in Deutschland.
Sichtungen in Ehingen und auf der Alb könnten zusammenhängen
»Die Sichtungen bei Ehingen und jetzt auf der Alb beziehungsweise am Albtrauf könnten zusammenhängen«, meint Böcker, »bis wir mehr wissen, bleibt das aber Spekulation.« Auch die Frage, ob der Graurock sich noch in der Region aufhält und vielleicht um die St. Johanner Fohlenweide des Haupt- und Landgestüts Marbach herum pirscht, kann noch nicht beantwortet werden.
Der Vorsitzende des Kreisbauernverbands Reutlingen, Gebhard Aierstock, hofft, dass das Tier oder die Tiere weiterziehen. Er macht sich Sorgen um die Weidetierhalter, die auf der Alb unter anderem für die Pflege der typischen Wacholderheiden unverzichtbar sind: »Die Erfahrungen im Norden und Osten Deutschlands haben gezeigt, dass der Aufwand, der für den Schutz betrieben werden muss, sehr hoch ist. Das ist ein ständiges Aufrüsten mit höheren und besseren Zäunen gegen immer schlauer werdende Wölfe.« Auch wenn es in der Region noch nicht so weit ist: Über eine Bestandsreduzierung müsse man sich zumindest Gedanken machen. »Es ist nicht auszuschließen, dass sich Kollegen mit dem Gedanken tragen, aufzugeben.«
Lichtenstein liegt auf internationalem Wildkorridor
Die betroffenen Gemeinden im Landkreis Reutlingen liegen außerhalb der beiden Fördergebiete des Landes Wolfsprävention Schwarzwald und Odenwald. In den Fördergebieten werden Investitionen für Schutzmaßnahmen unterstützt. Allerdings werden dann Ausgleichszahlungen etwa für gerissene Tiere nur erstattet, wenn die Halter Zäune gezogen oder Herdenschutzhunde gehalten haben.
FOTO: Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg
Interessant ist, dass Lichtenstein auf einem internationalen Wildkorridor liegt. Die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) stellt in ihrem Kartendienst einen »Generalwildwegeplan« des Landes zur Verfügung. Lichtenstein liegt dort auf dem Korridor zwischen Amstetten im Nordosten und Hechingen im Südwesten, St. Johann knapp daneben. An den Jägerstammtischen ist ab und an die Rede von den legendären Fernwechseln, die sich quer durch Europa ziehen und seit alter Zeit vom Wild benutzt werden sollen. Vielleicht ist an der Waidmannsweisheit ja etwas dran. (GEA)