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Aktuell Lesung

Zeit der Ausgrenzungen, Zeit der Neuanfänge

Einblicke ins Leben der Pausa-Gründer-Nachkommen Doris Angel und Harold Livingston

Doris Angel und Harold Livingston bei ihrem ersten Besuch 2009 in Mössingen bei den alten Pausa-Säulen im Foyer des Hauses an de
Doris Angel und Harold Livingston bei ihrem ersten Besuch 2009 in Mössingen bei den alten Pausa-Säulen im Foyer des Hauses an der Steinlach. FOTO: NIETHAMMER
Doris Angel und Harold Livingston bei ihrem ersten Besuch 2009 in Mössingen bei den alten Pausa-Säulen im Foyer des Hauses an der Steinlach. FOTO: NIETHAMMER

MÖSSINGEN. Was bleibt vom Leben übrig? Erinnerungen. Doch die sind flüchtig und verloren, wenn sie nicht aufgeschrieben werden. Leben, in Geschichten gefasst, baut Brücken aus der Vergangenheit zum Jetzt.

Der Löwenstein-Forschungsverein kümmert sich um Bewahrung von Erinnerungen an die Pausa-Gründer und ihre Lebensleistung, aber auch die Erinnerung an deren Nachkommen, die den Aufstieg der Nazis noch miterlebten. Am Mittwochabend standen zwei Kinder der Pausa-Gründer im Mittelpunkt eines Vorleseabends, den der Löwenstein-Forschungsverein organisiert hatte.

Schleichende Stigmatisierung

Auf diese Weise sprachen Doris Angel, Tochter von Felix und Helene Löwenstein, und Harold Livingston, Sohn von Artur und Flora Löwenstein, noch einmal zu einem kleinen Mössinger Publikum, das sich in der Kulturscheune versammelt hatte. Beide hatten auch schon Mössingen besucht, hier Freundschaften geschlossen, wie Harold zu Otto Belser, der im Publikum saß und einräumte, noch immer die E-Mail-Adresse von Harold Livingston gespeichert zu haben. Obwohl der inzwischen verstorben ist, genauso wie Doris Angel, die mit 94 Jahren am 6. März dieses Jahres in Manchester starb, das für sie Ort eines Neuanfangs war nach der Flucht ihrer Familie vor den Nazis.

Edith Policke, Hanne Bohn, Helmut Seidel, Gerhard Futter, Ellen Kaiser und Irene Scherer ließen bei ihren Lesungen diese prägende Zeit in ihrem Leben wieder auferstehen, durch das, was sie selbst geschrieben und berichtet haben. Wie schleichend die Deutschen jüdischer Herkunft von denen, die sich als die wahren Deutschen verstanden, erst separiert, dann aussortiert wurden.

Ein Mädchen, mit dem sie die Schulbank teilte und das drei Jahre ihre Freundin war, habe sich plötzlich bei der Lehrerin beschwert, dass sie riechen würde, schrieb Doris Angel. Daraufhin wurde sie ganz nach hinten verbannt. Genauso lebendig sind aber auch ihre positiven Erinnerungen an die Begeisterung ihres Vaters für den Bauhausstil. Die Weißenhofsiedlung wurde von der in Stuttgart lebenden Familie mehrmals im Jahr besucht. Beim Mössinger Generalstreik hatten die Arbeiter die Erlaubnis ihres Vaters, während andere Betriebe ihrer Belegschaft den Protest verboten oder wie ein Betrieb, sie sogar einschlossen.

Die Familie von Harold Livingston, ehemals Helmut Löwenstein, floh erst nach Italien, bis dort die Lage für Juden immer schlimmer wurde. Dank eines Bürgen konnten sie nach England ausreisen, wurden aber, als der Krieg ausbrach, von den britischen Behörden als feindliche Ausländer, also Nazis, angesehen. Harold Livingston erinnerte sich an eine Horrorfahrt nach Australien mit einer britischen Besatzung, von der die Juden schikaniert und bestohlen wurden. Briten, die Glas auf Deck zersplittern ließen und sie drüber trieben.

Schikane auf dem Schiff

Harold kam zurück nach England, diente in der Armee, arbeitete für diese nach Kriegsende in Deutschland als Übersetzer und bekam durch einen Besuch im KZ Bergen-Belsen eine Woche, nachdem es von britischen Truppen befreit wurde, einen Eindruck von den Gräueln. »Die Überlebenden sahen aus, als seien sie zu 99 Prozent tot«, notiert er. Am Eingang des KZs hängten die Briten ein Plakat auf: »Dies ist ein Beispiel deutscher Kultur.«

Dass von deutscher Seite, zuerst von Stuttgart, dann von Mössingen, Einladungen an die einstigen jüdischen Mitbürger ausgingen, hat Doris Angel, die sich vor allem im sozialen Bereich engagierte, und Harold Livingston gefreut. »Sie kamen, um die Hand zu reichen«, so Welf Schröter vom Forschungsverein. »Sie wünschten sich, dass ihre Familien und ihre Leistung für die Pausa gewürdigt werden, was uns ganz gut gelungen ist.« Auch mit dieser Lesung. (al)