TÜBINGEN. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Uni Tübingen ehrt den Virologen Christian Drosten mit der »Rede des Jahres 2025«. Damit werde das »klare und eindringliche Plädoyer für eine engagierte Wissenschaft«, das Drosten in seiner Rede »Wissenschaft ist Freiheit und Pflicht« am 27. Mai formulierte, gewürdigt, wie es in einer Pressemitteilung der Uni Tübingen heißt. In der vor dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gehaltenen Rede verpflichtete der Charité-Professor die Wissenschaft mit Nachdruck, Freiheit und Demokratie nicht für selbstverständlich zu erachten.
Seit 1998 zeichnet das Seminar Redebeiträge aus, die die politische, soziale oder kulturelle Diskussion entscheidend beeinflusst haben. Kriterien sind unter anderem inhaltliche Relevanz, Vortragsstil, Elaboriertheit sowie die publizistische Wirkung. Christian Drosten, der das Institut für Virologie an der Charité Berlin leitet und aus der Pandemie-Zeit als Wissenschaftskommunikator weiten Teilen der Bevölkerung bekannt wurde, argumentiere in der ausgezeichneten Rede sachlich und stringent, klar und verständlich, so die Begründung der Jury. Er spare dabei unbequeme Wahrheiten nicht aus. Glaubwürdig werde der nüchtern-sachliche Stil des Redners durch seine persönliche Integrität. Der Redner selbst, sein Anliegen sowie sein Stil stellen den Rahmen einer bedeutsamen Rede dar.
Drosten mit Kritik an der Gesellschaft
Vor dem DIW analysiert Drosten gleich zu Beginn: »Die Gesellschaft hat das Bewusstsein für Fakten verloren.« Polarisierung von Debatten, Personalisierung vielschichtiger Sachthemen und menschliche Bestrebungen nach Öffentlichkeit und Opportunität bezeichnet er als Symptome dieses Realitätsverlustes. Seine Kritik gipfelt laut den Juroren der Uni Tübingen in der pointierten Aussage: »Was postfaktische Politiker von sich geben, ist noch nicht einmal falsch, aber dennoch keineswegs richtig«. Konsequenterweise spricht er von einem »vollkommenen Verlust der Orientierung an Fakten«.
Der Orientierungsverlust äußere sich im Alltag in einer stetigen Erosion wissenschaftlicher und journalistischer Gütekriterien und münde in einer Monopolstellung der »Meinungsmacht« – wovor auch die Wissenschaft nicht gefeit sei. Leistungsdruck, Selektionsdruck sowie politische Flexibilität und Opportunismus wirken ebenso auf das moderne Wissenschaftssystem wie auf die Gesellschaft, weshalb Altruismus, soziale Verantwortung oder Courage verloren gehen.
Vom Erklärer zur engagierten Stimme der Wissenschaft
Die Lösung sieht Drosten allerdings nicht in einem Mehr an Wissenschaft. Wir alle profitierten zwar von den Ergebnissen dieser, doch zeige die Entwicklung in den USA, dass Wissenschaftsfreiheit nicht bedeute, »sich herauszuhalten« – ganz im Gegenteil betont Drosten: »Ich plädiere heute für ein Nachdenken über den Grundsatz der Wissenschaftsfreiheit – und zwar nicht in erster Linie wegen ihrer Einschränkung! Die Freiheit der Wissenschaft muss auch Verpflichtungen mit sich bringen.«
Für seine Forderung ist er in den Augen der Jury selbst ein mustergültiges Beispiel, sehe er doch seine Rolle nicht mehr wie in der Corona-Zeit als bloßer Erklärer, sondern nunmehr als Mahner und engagierte Stimme der Wissenschaft. Mit Leidenschaft fordert er in seinem Schlussappell von allen Beteiligten im Wissenschaftssystem beherzten Einsatz und Engagement »in der demokratischen Debatte«. Denn auch diese Verantwortung bringe die Wissenschaftsfreiheit mit sich.
Drosten beweise in seiner Rede, dass Wissenschaft und Gesellschaft keine getrennten Sphären sind, sondern zusammengedacht werden müssen und nur so Freiheit und gesellschaftliches Miteinander vermittelt werden können, so die Jury der Uni Tübingen. In einem Plädoyer für eine engagierte Wissenschaft adressiert er auch die politisch Verantwortlichen, die »Institutionen der Wissenschaft zu stärken – in ihrem eigenen Interesse und für die Überlebensfähigkeit unserer demokratischen Gesellschaften«. (pm)

