TÜBINGEN. Eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von krankhaftem Übergewicht nimmt das Hormon Insulin ein. Bislang deutete vieles darauf hin, dass Insulin besonders im Gehirn zu Stoffwechsel- und neurodegenerativen Er-krankungen führt. Nun liefert eine Studie des Universitätsklinikums Tübingen, von Helmholtz Munich und des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) neue Erkenntnisse zur Rolle des Gehirns als entscheidende Schaltstelle und als Ursprung von Adipositas und Typ-2-Diabetes.
Obwohl bereits seit Langem als Auslöser für zahlreiche Erkrankungen wie Diabetes, Herzinfarkt oder gar Krebs bekannt, ist Adipositas erst seit 2020 in Deutschland als eigenständige Krankheit offiziell anerkannt. Mit rund 16 Millionen Menschen allein in Deutschland und mehr als einer Milliarde Menschen weltweit, ist krankhaftes Übergewicht von der Weltgesundheitsorganisation bereits als Epidemie bezeichnet worden. Von Adipositas spricht man bei einem Body-Mass-Index von über 30.
Mangelnde Bewegung und ungesunde Ernährung gelten häufig als Ursache für die chronische Erkrankung. Die Mechanismen im Körper, die zu Adipositas führen und bei der Krankheit auftreten, sind allerdings vielschichtiger.
Die Rolle von Insulin
Die Insulinempfindlichkeit des Ge-hirns steht im Zusammenhang mit langfristiger Gewichtszunahme und ungesunder Körperfettverteilung. Welche Prozesse spielen sich dabei im Gehirn genau ab? Dieser Frage gingen Professor Dr. Stephanie Kullmann aus der Tübinger Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Nephrologie und ihr Team in ihrer Studie auf den Grund. »Unsere Ergebnisse zeigen erstmalig, dass bereits eine kurzzeitige Einnahme von hochverarbeiteten, ungesunden Lebensmitteln zu einer gravierenden Veränderung im Gehirn von gesunden Menschen führt und dies als Ausgangpunkt von Adipositas und Typ-2-Diabetes gelten kann«, erläutert Studienleiterin Kullmann.
Im gesunden Zustand hat Insulin im Gehirn eine appetitzügelnde Wirkung. Insbesondere bei Menschen mit Adipositas reguliert das Insulin das Essverhalten allerdings nicht mehr richtig, eine Insulinresistenz entsteht. »Interessanterweise zeigt das Gehirn bei unseren gesunden Studienteilnehmern eine ähnliche Abnahme der Empfindlichkeit gegenüber Insulin nach kurzzeitiger hoher Kalorienzufuhr, wie bei Menschen mit krankhaftem Übergewicht«, stellt Kullmann fest. »Dieser Effekt ist sogar eine Woche nach Rückkehr zu einer ausgewogenen Ernährung zu beobachten«, ergänzt sie.
Kurzfristige Anpassung
»Wir gehen davon aus, dass sich die Insulinreaktion des Gehirns an kurzfristige Änderungen der Ernährung anpasst, bevor überhaupt eine Gewichtszunahme eintritt und somit die Entwicklung von Übergewicht und weiterer Folgeerkrankungen begünstigt«, schlussfolgert Professor Dr. Andreas Birkenfeld, Ärztlicher Direktor der Inneren Medizin IV, Direktor des IDM und DZD-Vorstand sowie Letztautor der Studie. Aufgrund der neuen Erkenntnisse fordert er, dass die Forschung zum Beitrag des Gehirns für die Entstehung von Adipositas und weiterer Stoffwechselerkrankungen verstärkt werden muss. (eg)