TÜBINGEN. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ist am Montag bei den Grünen ausgetreten. »Ich möchte damit vermeiden, dass die aktuellen Diskussionen um mich eine weitere lang anhaltende Belastung für die Partei werden, für die ich seit 1996 mit viel Herzblut gekämpft habe«, schreibt der OB in einer E-Mail an die Grünen-Landesvorsitzende Lena Schwelling. Er sei sehr dankbar für alles, was er durch diese Partei in dieser langen Zeit an Unterstützung und Verantwortung erhalten habe. Die Reaktionen auf den Parteiaustritt von Palmer fallen sehr unterschiedlich aus: Einige sind irritiert, andere stärken dem Politiker den Rücken und wieder andere kritisieren ihr heftig. Eine Zusammenfassung der Reaktionen.
Schlagersänger Dieter Thomas Kuhn ist irritiert von Palmer
Noch bei der Tübinger Oberbürgermeisterwahl hatte Dieter Thomas Kuhn Boris Palmer unterstützt, jetzt nimmt der Schlagersänger eher Abstand von ihm. »Ich bin etwas ratlos, wie ich mit ihm umgehen soll«, sagte Kuhn am Dienstag. Er teile das Unverständnis über Palmers Aussagen und verstehe, dass diese als rassistisch empfunden werden können, sagte Kuhn. Ganz abwenden möchte er sich aber noch nicht, er will abwarten, wie es mit Palmer weitergeht. »Wir haben mit ihm in Tübingen ja einen guten Oberbürgermeister gehabt.« Erst als sich Palmer in den vergangenen Jahren in die Landespolitik eingebracht habe, sei etwas schiefgelaufen, meinte der Sänger. Ihn und Palmer verbindet nach Aussage von Kuhn eine langjährige Freundschaft. Palmer hatte am Montag seinen Parteiaustritt bei den Grünen erklärt und zuvor bekanntgegeben, eine »Auszeit« nehmen zu wollen. Vorausgegangen war dem ein Eklat am Rande einer Migrationskonferenz in Frankfurt am Main. Dort hatte Palmer am Freitag Stellung zu Art und Weise seiner Verwendung des »N-Wortes« genommen.
Tübinger Ärztin Lisa Federle stärkt Palmer den Rücken
Die bekannte Tübinger Ärztin Lisa Federle hält auch nach dem jüngsten Eklat weiterhin zu Boris Palmer. »Grundsätzlich kann ich sagen, dass ich ihm beistehen werde«, sagte sie am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage. Gleichzeitig könne sie die Kritik an seinen Aussagen verstehen. Federle hatte während der Corona-Pandemie mit ihrem Team das »Tübinger Modell« bundesweit bekannt gemacht. Dabei waren mit einem negativen Corona-Test schon früh in der Pandemie etwa Außengastronomie oder Kulturvorführungen erlaubt. In diesem Zusammenhang lobte Federle immer wieder die Zusammenarbeit mit Boris Palmer als Oberbürgermeister.
Palmers Ex-Anwalt Schlauch: Freundschaft bleibt unangetastet
Der frühere Grünen-Bundestags-Fraktionschef und Ex-Anwalt von Boris Palmer Rezzo Schlauch betont seine Freundschaft zu Tübingens Oberbürgermeister. Er habe Respekt vor Palmers Entscheidung, teilte der Jurist am Dienstag mit. Seine persönliche Freundschaft zu Palmer bleibe unangetastet. Mit der Ankündigung professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und dem Parteiaustritt habe Palmer dokumentiert, »dass er erstmalig bereit ist, sich mit seinen Fehlleistungen ernsthaft und glaubhaft zu konfrontieren.«
Schlauch war zuvor Palmers Anwalt gewesen. Nach dem Eklat in Frankfurt hatte er zunächst mitgeteilt, dass er Palmer seine persönliche und politische Loyalität und Unterstützung sowie juristische Vertretung aufgekündigt habe.
Kretschmann kritisiert Palmers Aussage zum Judenstern scharf
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat die umstrittenen Äußerungen von Boris Palmer am Rande einer Migrationskonferenz in Frankfurt am Main scharf kritisiert. »Mit seinem Vergleich mit dem Judenstern hat er eine Grenze überschritten, die er nicht überschreiten darf«, sagte der Grünen-Politiker am Dienstag in Stuttgart. »Ich habe ihm deutlich gesagt, dass man eine solche Äußerung unter keinen Umständen machen darf.« Er selbst habe mit dem Tübinger Oberbürgermeister am Wochenende nicht persönlich gesprochen, habe aber einen Schriftwechsel mit ihm geführt. »Ich habe ihm keinen Rat gegeben«, sagte Kretschmann. Auch wolle er Palmer keine öffentlichen Ratschläge geben. »Aus der Situation, in er sich damit selbst gebracht hat, muss er selbst rausfinden.« Palmers Entscheidung, bei den Grünen auszutreten, nötige ihm Respekt ab, sagte der Regierungschef. Dass Palmer nun eine Auszeit nehmen will, hält Kretschmann für richtig. »Ich wünsche ihm, dass er diese Zeit gut für sich nutzen kann.«
Weniger Bedauern, aber Respekt äußerte der Vorsitzende der Bundespartei, Omid Nouripour. »Es gab ja Gründe, warum wir viele Diskussionen alle miteinander hatten«, sagte er am Dienstag im ZDF-»Morgenmagazin«. Palmers Schritt sei »respektabel, und ich wünsche ihm ein gutes Leben«.
Chris Kühn: Palmers Parteiaustritt »konsequenter Schritt«
Der Tübinger Bundestagsabgeordnete Chris Kühn hat den Parteiaustritt von Boris Palmer als konsequenten Schritt bezeichnet. Palmer habe sich besonders seit 2015 inhaltlich und programmatisch weit von der Partei entfernt, sagte Kühn der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. »Insoweit war das ein konsequenter Schritt nach einer Entfremdung, die sich über viele Jahre abgezeichnet hat«, kommentierte er den Parteiaustritt Palmers. Kühn, der einige Jahre im Tübinger Kreisvorstand der Grünen saß und Landeschef der Grünen war, galt als parteiinterner Gegner Palmers. Zu den Vorgängen in Frankfurt hatte Kühn am Samstag getwittert, dass er sich als Tübinger wieder einmal für den Oberbürgermeister seiner Heimatstadt schäme. Nach Palmers Parteiaustritt sagte er am Montagabend, dass er Palmer nun seit 21 Jahren kenne und großen Respekt vor dessen Schritt habe. Kühn, derzeit Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium, sprach von einer Zäsur für die Tübinger Grünen. »Ich glaube er hat erkannt, dass er wirklich einen großen Fehler begangen hat«, sagte Kühn. »Dass die Partei nun Klarheit hat, ist auch gut.«
»Als Stadtrat äußere ich mich nicht dazu«, betonte Bernd Gugel (AL/Grüne). Als Privatmensch – und das trenne er ganz klar – könne er dagegen sagen: »Boris hat weiterhin meine Unterstützung, Solidarität und Freundschaft. Das weiß er auch.« Palmer habe sich provozieren lassen und heftigst reagiert. »Das ist mir auch schon passiert, ich kann das nachfühlen.« Dass Palmer sich eine Auszeit nehmen will, begrüßt er. »Das würde ich auch machen.« Er habe ihm immer wieder geraten: »Geh’ Rad fahren, wenn du Ärger hast, das macht das Hirn frei.«
»Ich bedaure die ganze Entwicklung«, erklärte auch Fraktionskollege Rainer Drake. »Eine traurige Sache.« Zumal die vergangenen 16 Jahre in Tübingen eine politische Erfolgsgeschichte seien. Er stehe weiter dazu, Palmer 2022 als ruhendes Mitglied der Grünen bei der Wahl zum Stadtoberhaupt unterstützt zu haben. Drake äußerte Respekt vor der Erklärung Palmers zu der Angelegenheit in Frankfurt. Er halte es allerdings für »kontraproduktiv, wenn jetzt eine Kakofonie an Stimmen dazu durch den Äther schwingt. Und wenn ich an den Menschen denke, wünsche ich ihm nur das Beste.«
Gemeinderäte begrüßen Auszeit Palmers
Gemeinderätin Gerlinde Strasdeit (Linke) erklärte: »Der Oberbürgermeister schadet der Stadt Tübingen, ihrem weltoffenen Charakter und ihrer international geprägten Einwohnerschaft. Sein Verhalten ist nicht mehr zumutbar.« Mit seinen Äußerungen habe er sich selbst zum Verlierer gemacht. Er sei kein Opfer, das sich mit dem Holocaust vergleichen könne, sondern provoziere selbst immer wieder mit rassistischen Mustern. »Er hat viel Vertrauen zerstört. Eine Auszeit ist zu begrüßen, aber das reicht nicht«, meint Strasdeit. »Wenn er sein Verhalten nicht in den Griff bekommt, muss er die politischen Konsequenzen ziehen.«
Martin Sökler (SPD) äußerte Respekt für die persönliche Erklärung des OB. Und für die Erkenntnis, dass er ein Problem habe. Palmer sei »ein Opfer seiner Persönlichkeit«. Wegen seiner Einsicht wolle man seine Bewährungszeit, die man ihm aufgrund seiner Aussagen zu dem Tod eines Gambiers im Botanischen Gartens zugestanden hatte, noch einmal verlängern. »Wegen des Parteiaustritts tut er mir leid«, sagte Sökler. »Es ist, wie wenn man eine Familie verliert, die Grünen waren seine geistige Heimat.« Auch Ulrike Ernemann hält die Auszeit für richtig. »Ich halte ihn nicht für einen Rassisten, sondern für jemanden, der die Dinge anspricht, die man in der Stadtgesellschaft differenziert betrachtet«, betonte die CDU-Fraktionsvorsitzende. Respekt zollte auch sie ihm für seine Entscheidung, in Selbstreflexion zu gehen und einen besseren Umgang in provokanten Situationen zu lernen.
Tübinger Bürger loben Palmers Politik
Der Biologiestudent Richard Kraft hat eine klare Meinung: »Palmers Klimapolitik ist herausragend.« Das sei der Grund, warum er Palmer schließlich auch bei der Oberbürgermeisterwahl vergangenes Jahr seine Stimme gegeben habe – trotz einiger kontroverser Diskussionen im Freundeskreis und Palmers umstrittenen Äußerungen in der Vergangenheit. »Viele haben ihn nicht gewählt, weil sie ihn nicht mögen«, erklärt der Student bei einer Umfrage in der Tübinger Altstadt.
Auf kommunalpolitischer Ebene mache der OB »sehr gute Politik«, wie man besonders während der Pandemie sehen konnte. Andererseits verurteilt Kraft die rassistischen Aussagen, die Palmer immer wieder in die Welt posaune. Was der Student nicht versteht: Als professioneller Politiker »sollte er die Fassung doch besser bewahren können.«
Selbstbeherrschung – das ist ein Aspekt, den Hansjörg Ostermayer bei seinem Freund Boris Palmer gerne ausgeprägter sehen würde. »Er reagiert extrem reflexhaft«, erklärt das Grünen-Parteimitglied, das den Tübinger OB bereits seit seiner ersten Amtszeit begleitet. »Im Wahlkampf hat er es ja auch geschafft, sich keinen Ausrutscher mehr zu leisten.« Den Austritt aus der Partei finde er daher richtig. »Mit solchen Aussagen – ohne es zu wollen – bedient er die Positionen der Populisten.« Eine »überstresste Situation« wie bei den Protesten in Frankfurt entschuldige eine derartige Entgleisung nicht.
Francesca Baker bezeichnet Palmers Verhalten als »unverantwortlich«. Als Oberbürgermeister habe er eine Vorbildfunktion für die Unistadt – der er mit seinen Eskapaden schade. »Es ist für mich selbstverständlich, dass man über das N-Wort reden kann, ohne es zu benutzen«, erklärt Baker. »Ich verstehe nicht, warum er das nicht schafft.«
Tübinger Landrat Joachim Walter kritisiert Palmer
Der Tübinger Landrat Joachim Walter (CDU) hat Boris Palmer nach dessen umstrittenen Aussagen am Rande einer Migrationskonferenz in Frankfurt am Main kritisiert. Als Oberbürgermeister dürfe man sich nicht irritieren lassen, sagte Walter am Dienstag. »Vielleicht hilft es ja, wenn er eine Auszeit nimmt.« Mit Palmer komme er nicht immer gut zurecht, sagte Walter und verwies auf Meinungsverschiedenheiten in der Kommunalpolitik. Als Landrat müsse er zwischen persönlicher und Sachebene unterscheiden. Eine Einladung, der CDU beizutreten, würde Walter Palmer »auf keinen Fall« aussprechen.
Künftiger Bürgermeister Alshebl verteidigt Palmer
Ostelsheims künftiger syrischer Bürgermeister, Ryyan Alshebl, kritisiert zwar die Aussagen von Boris Palmer als »unnötig und überflüssig«, verteidigt ihn jedoch als Person. »Palmer ist meiner Überzeugung nach kein Rassist«, sagte Alshebl am Dienstag. »Wieso sollte ein Rassist einen Syrer unterstützen, Bürgermeister zu werden?«
Palmer hatte den Wahlkampf Alshebls im Frühjahr dieses Jahres unterstützt. Seit seiner Kandidatur zur Bürgermeisterwahl in Ostelsheim (Kreis Calw) seien die beiden regelmäßig in Kontakt, sagte Alshebl. Er bedauere den Austritt von Palmer aus der Partei sehr. Die Debatte sei übertrieben.
Grünen-Landrat Jens Marco Scherf: Tür für Palmer nicht verschließen
Nach dem Eklat um den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat der unterfränkische Grünen-Landrat Jens Marco Scherf Unterstützung für den umstrittenen Politiker signalisiert. Er bedauere Palmers Austritt aus der Partei, sagte Scherf der Deutschen Presse-Agentur am Dienstag. An seine Partei appellierte er: »Die Grünen sollten ihrerseits die Tür nicht dauerhaft verschließen. Das ist mir ein Anliegen.« Scherf hatte sich Mitte März gemeinsam mit Palmer in einem Appell zur Flüchtlingspolitik an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gewandt. Sie forderten unter anderem, die Zahl der an die Kommunen verteilten Geflüchteten deutlich zu reduzieren. Scherf ist Landrat des Landkreises Miltenberg im Norden Bayerns.
Auch Scherf kritisierte die umstrittenen Äußerungen Palmers am Rande einer Migrationskonferenz am Freitag: »Sämtliche Vergleiche aus unserer aktuellen Zeit als Opfer politischer Kampagnen mit den Opfern des Holocaust sind vollkommen absurd.« Zugleich sagte er: »Ich bin mir ganz sicher, dass das auch die Überzeugung von Boris Palmer ist.« Der Grünen-Politiker betonte: »Den Austritt aus der Partei finde ich sehr schade und bedauere das persönlich.« Scherf sagte: »Grundsätzlich halte ich Boris Palmer mit seiner Expertise, seinem Fachwissen, mit seiner politischen Analyse für extrem wertvoll. Seine kommunale Arbeit, die er in Tübingen macht, ist fantastisch.« Zu Palmers Auszeit meinte Scherf: »Ich habe einen ganz großen Respekt vor der Entscheidung, jetzt eine Auszeit zu nehmen und sich professionelle Hilfe zu holen. Er gesteht sich damit ja eine Schwäche ein - und das ist eine große Stärke in einer öffentlichen Position.«
Susanne Schröter: Palmer-Eklat hat die Wissenschaft beschädigt
Der Eklat um den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat Folgen über die Politik hinaus. »Das hat enormen Schaden angerichtet«, sagte die Organisatorin der Konferenz, bei der Palmer vergangene Woche zu Gast war, Prof. Susanne Schröter. »Das ist mehr als ein Sturm im Wasserglas.« Schröter leitet das Forschungszentrum Globaler Islam, das die Tagung organisiert hatte, bei der Palmer Dinge sagte, die auch Schröter »unsäglich« findet. Das Zentrum steht seit Jahren in der Kritik. Schon bei einer Konferenz zum Thema Kopftuch wurde Schröter angefeindet. Auch im Vorfeld dieser Konferenz, bei der Palmer über Migration sprechen sollte, habe es »Mobbing« gegen sie gegeben. Je nach Thema werde ihr wahlweise vorgeworfen, eine zu liberale Position zu vertreten oder rassistisch zu sein. »Das war ich nie, ich vertrete pragmatische Positionen.«
Eine ergebnisoffene Debatte zu führen, werde an Hochschulen immer schwerer, sagte Schröter. Lautstarke Gruppen würden mit ihren »ideologischen Maximalforderungen« alles »abseits vom linken Mainstream« diskreditieren. Palmers Äußerungen seien »eine vollkommene Entgleisung«, aber das Zentrum und sie selbst würden assoziiert. Es gehe nicht mehr um Inhalte und einen Austausch der Argumente, sondern darum, »jemandem ein Label anzuheften.«
Der Präsident der Goethe-Universität, Prof. Enrico Schleiff, kündigte an, die Hochschule werde die Vorkommnisse zum Anlass nehmen, »um sich in einem statusübergreifenden Dialog auf gemeinsame Werte und Guidelines zur Organisation und Ausrichtung von Veranstaltungen an der Nahtstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit zu verständigen«. Man wolle sicherstellen, »den wichtigen Dialog mit der Gesellschaft angemessen führen zu können«.
(dpa/GEA)