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Aktuell Entscheidung

So begründet Boris Palmer seinen Austritt bei den Grünen

Nach einem Eklat am Wochenende tritt der umstrittene Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer bei den Grünen aus. Was vorgefallen ist und warum er sich zu diesem Schritt entschieden hat.

Boris Palmer
Die Aufregung um seine Äußerungen in Frankfurt ist nicht die erste, die Boris Palmer mit pointierten Aussagen ausgelöst hatte. Foto: Marijan Murat
Die Aufregung um seine Äußerungen in Frankfurt ist nicht die erste, die Boris Palmer mit pointierten Aussagen ausgelöst hatte.
Foto: Marijan Murat

TÜBINGEN. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ist am Montag bei den Grünen ausgetreten. »Ich möchte damit vermeiden, dass die aktuellen Diskussionen um mich eine weitere lang anhaltende Belastung für die Partei werden, für die ich seit 1996 mit viel Herzblut gekämpft habe«, schreibt der OB in einer E-Mail an die Grünen-Landesvorsitzende Lena Schwelling, die dem GEA vorliegt. Er sei sehr dankbar für alles, was er durch diese Partei in dieser langen Zeit an Unterstützung und Verantwortung erhalten habe.

Damit zieht Palmer einen Schlussstrich unter eine jahrelange Debatte über seine Parteizugehörigkeit nach vielen Skandalen (Artikel unten). Das ruhende Parteiausschlussverfahren gegen ihn, das die Landesgrünen 2021 beschlossen hatten, hat sich nun von selbst erledigt. Doch wie konnte es so weit kommen?

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Nach N-Wort- und Judenstern-Eklat: Der umstrittene Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer tritt bei den Grünen aus.

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Eklat um N-Wort- und Judenstern

Auslöser für den jüngsten Eklat: Palmer war am Freitagabend bei der Migrationskonferenz an der Goethe-Universität Frankfurt zur Diskussionsrunde »Migration steuern, Pluralität gestalten« eingeladen. Vor der Veranstaltung kam es im Freien zu heftigen Wortwechseln mit Demonstranten. Einige von ihnen hatten den OB mit Parolen wie »Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda« empfangen und ihm vorgeworfen, das »N-Wort« auf seiner Facebook-Seite zu verwenden. Videoaufnahmen, die bei Twitter veröffentlicht wurden, dokumentieren, wie sich Palmer verteidigt. »Ihr beurteilt Menschen anhand von einem einzelnen Wort«, sagt er und ergänzt nach einer kurzen Pause: »Das ist nichts anderes, als der Judenstern.« Zu viel für die ohnehin schon aufgebrachten Studenten. »Was? Hör auf, hör auf« und »Das ist einfach nur Relativierung des Holocausts«, schallt es dem Tübinger Rathauschef entgegen. Seine Versuche, sich zu erklären, gehen in den lauten Protesten unter.

Bei der Veranstaltung im Anschluss an den Disput, erklärte Palmer, wann die Benutzung des »N-Worts« aus seiner Sicht legitim ist, und wann nicht. Zunächst erläuterte er: »Der simple Sprechakt gibt keine Auskunft darüber, ob eine Person ein Nazi ist, oder nicht. Die Frage ist immer die des Kontextes.« Und weiter:  »Wenn ich eine Person, die vor mir steht, als Neger bezeichne, weil sie schwarze Hautfarbe hat, ist es eine justiziable Beleidigung. Brauchen wir auch nicht drüber zu diskutieren.«

Das auf die Vorfälle folgende verlängerte Wochenende war geprägt von vielen harten Reaktionen darauf, dass Palmer das »N-Wort« ausgesprochen und einen Vergleich mit dem Judenstern gemacht hatte. Deutschlandweit wie kommunal äußerten Politiker Entsetzen und Unverständnis. Beispielsweise ging der Tübinger Grünen-Stadtverband auf Distanz, und die Gruppe »Vert Realos« –  ein Zusammenschluss sogenannter Realpolitiker bei den Grünen – bekundete, künftig ohne Palmer weiterarbeiten zu wollen. Ebenso verurteilten der Grünen Stadtverband sowie die Tübinger Jugendorganisationen Grüne Jugend, Junge Liberale, Junge Union und Jusos seine Äußerungen. Nicht ahnend, dass Plamer am Montagabend von selbst das Handtuch werfen würde.

Palmer erklärt sich in Mail

In einer Erklärung, die Palmer an die Austrittsmail angehängt hat, findet der sonst sehr sachlich argumentierende Politiker persönliche Worte. Die wiederkehrenden Stürme der Empörung könne er seiner Familie, seinen Freunden und Unterstützern sowie Stadtmitarbeitern und Stadtgesellschaft »nicht mehr zumuten«, heißt es da. Und: »Wenn ich mich zu Unrecht angegriffen fühle und spontan reagiere, wehre ich mich in einer Weise, die alles nur schlimmer macht.«

Was vielen nicht bekannt ist: Palmers Großvater war Jude. Wenn der Tübinger – wie es nach den jüngsten Skandalen immer häufiger geschieht –   aus der politisch linken Ecke als »Nazi« betitelt wird, trifft ihn das sehr. Bei einer Podiumsdiskussion des GEA in Reutlingen zum Thema Graffiti hatte ihn ein junger Mann aus dem linken Spektrum beispielsweise auch schon als Nazi bezeichnet. Palmer hatte daraufhin hör- und sichtbar emotional reagiert, und diesen Vergleich als Unding und Frechheit kritisiert. Das Muster wiederholte sich nun in Frankfurt. Der Nazi-Vergleich scheint beim Tübinger OB besondere Triggerpunkte zu treffen.

In seiner persönlichen Erklärung schreibt Palmer, dass der jüngste Nazi-Vergleich »tief sitzende Erinnerungen wach gerufen« habe. An den Besuch des von Neonazis geschändeten Friedhof seiner Vorfahren. An seinen Vater, der mit dem Judenstern auf der Brust gegen Unrecht protestiert hatte. An die Gruppe Jugendlicher, die ihm einst Schläge angedroht habe und gerufen habe, man habe nur vergessen seinen Vater zu vergasen.

Als Mensch müsse er sich wehren, um diese Vergleiche zu ertragen. »Als Politiker und Oberbürgermeister hätte ich niemals so reden dürfen«, gibt Palmer nun zu. »Die Erwähnung des Judensterns war völlig falsch und unangemessen.«

Anwalt Rezzo Schlauch wendet sich von Palmer ab

Nach dem jüngsten Eklat hatte sich selbst ein bislang unerschütterlicher Weggefährte Palmers von diesem abgewandt. Sein Anwalt Rezzo Schlauch teilte am Wochenende – noch vor Bekanntwerden des Austritts – mit: »Unmittelbar nach Kenntnis über den von Boris Palmer in Frankfurt zu verantwortenden Eklat habe ich ihm meine persönliche und meine politische Loyalität und Unterstützung sowie meine juristische Vertretung aufgekündigt.« Schlauch, früher selber für die Grünen politisch aktiv, hatte Palmer im Parteiausschlussverfahren juristisch vertreten und beim Wahlkampf unterstützt.

Palmer, der bislang nach allen Skandalen betont hatte, er werde sich nicht den Mund verbieten lassen, gibt sich nun kleinlaut. Harter Vorwurf von außen, zugespitzte Gegenwehr von Palmer, deutschlandweiter Skandal: Der Tübinger Oberbürgermeister scheint eingesehen zu haben, dass sich dieses Muster auch in Zukunft wiederholen wird. Er wolle deshalb nun versuchen, sich selbst zu ändern, sagt er. Wie das aussehen soll? Dazu äußert er sich am Montag nicht genauer. Von einer »Auszeit«, in der er »professionelle Hilfe in Anspruch« nehmen wolle, ist die Rede. Und davon, »neue Mechanismen der Selbstkontrolle zu beherrschen«. Bis dahin werde er alle »Konfrontationen mit ersichtlichem Eskalationspotenzial« vermeiden. Das betreffe Themen, Veranstaltungen und Äußerungen aller Art. Mehr wollte Palmer dem GEA am Montagabend nicht sagen. (GEA)