TÜBINGEN. Seit 20 Jahren werden am Tübinger Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) das Gehirn und seine Erkrankungen erforscht. Ziel ist es, neue und wirksamere Strategien der Diagnose, Therapie und Prävention zu ermöglichen.
Die enge Verknüpfung des Forschungsinstituts mit der Neurologischen Uniklinik unter dem Dach des Zentrums für Neurologie sorgt dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnisse rasch in die klinische Praxis überführt werden können. So profitieren etwa Patientinnen und Patienten der Neurologischen Uniklinik von der fortschreitenden Entdeckung krankheitsauslösender Gendefekte. Das Wissen hilft, sie mit einer maßgeschneiderten Therapie zu behandeln.
Das HIH gilt bundesweit als Vorreiter einer erfolgreich gelebten Translation in der Neuromedizin. Dieses Jahr feiert es nun sein 20-jähriges Bestehen. Um auch künftig den Herausforderungen der klinischen Hirnforschung optimal zu begegnen, wird das HIH sein Forschungsspek-trum erweitern.
Strategien zur Früherkennung
»Seit 20 Jahren leisten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hertie-Instituts hervorragende Arbeit. Das Institut hat sich im Bereich der Neurowissenschaften einen exzellenten Ruf erworben. Die Förderung des Landes dokumentiert, welch hohen Stellenwert das Institut selbst, aber auch das Engagement der Hertie-Stiftung im Land genießt«, sagte Wissenschaftsministerin Theresia Bauer.
»Die Neuromedizin der Zukunft beruht auf einem besseren Verständnis der molekularen und elektrophysiologischen Prozesse auf Zellebene und im Gesamtsystem Gehirn«, erklärt HIH-Vorstandsvorsitzender Professor Dr. Thomas Gasser. »In unserer alternden Gesellschaft ist außerdem der Schritt von der kurativen zur präventiven Medizin von großer Bedeutung. Den Menschen ist am besten geholfen, wenn sie gar nicht erst krank werden.«
Das HIH plant daher künftig stärker als bisher Strategien zur Früherkennung, Prävention und Rehabilitation neurologischer Erkrankungen zu entwickeln. Der Fokus liegt dabei auf der systembasierten Neuromedizin sowie der sogenannten personalisierten Medizin. Der erste Ansatz zielt darauf ab, das erkrankte Gehirn oder Nervensystem als Ganzes zu behandeln, etwa mit Hilfe von Neuroprothesen. Im zweiten Ansatz hingegen wird die zugrunde liegende Krankheitsursache – etwa ein Gendefekt – auf die erkrankte Person zugeschnitten therapiert.
Da Fortschritte in der modernen Biomedizin auf die Nutzung immer größerer Datenmengen in Labor und Klinik beruhen, wird das Institut zudem den Bereich der Digitalisierung stärken und Methoden des Maschinellen Lernens und der Künstlichen Intelligenz integrieren.
Seit seiner Gründung vor 20 Jahren ist das HIH stark gewachsen. Was mit Aushilfslaboren und einer Baustelle auf der grünen Wiese begann, hat sich in eine Forschungseinrichtung auf Augenhöhe mit anderen großen Zentren für Hirnforschung in Europa entwickelt. So hat sich die Zahl der Mitarbeitenden verdreifacht, das Drittmitteleinkommen vervierfacht und aus vier sind heute sechs Abteilungen geworden. Ihre Schwerpunkte reichen von Schlaganfall, Parkinson, Epilepsie über Hirntumore hin zu Alzheimer und decken die gesamte Bandbreite neurologischer Erkrankungen ab.
Die Forschenden am HIH haben mehrfach bahnbrechende Entdeckungen gemacht. So ist es ihnen etwa gelungen, einen Biomarker zu identifizieren, mit dem die Alzheimer-Erkrankung bereits in sehr frühen Phasen durch einen simplen Bluttest nachgewiesen werden kann. Sie fanden ebenfalls eine ganze Reihe von Gendefekten, die zu Epilepsien, Parkinson oder seltenen neurodegenerativen Erkrankungen führen.
Internationale Reputation
Fundamental neu ist auch der Ansatz, das erkrankte Gehirn zeitlich synchronisiert zu seinem inneren Erregungszustand zu stimulieren. Die Methode erwies sich bei der Rehabilitation einzelner Schlaganfallpatientinnen und -patienten mit Hand- oder Armlähmungen als sehr erfolgreich und wird aktuell in größeren Studien erprobt und ihre Anwendung für weitere Netzwerkerkrankungen des Gehirns geprüft. Langfristig soll ein Stimulationshelm entwickelt werden, mit dem Patientinnen und Patienten im Klinikalltag unkompliziert behandelt werden können.
»Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung ist die wichtigste Initiative innerhalb unseres Bereiches Gehirn erforschen«, sagt Frank-Jürgen Weise, Vorstandsvorsitzender der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, die das Institut seit seiner Gründung mit mehr als 55 Millionen Euro unterstützt hat. »Die Forschungserfolge und internationale Reputation bestätigen, dass mit der gemeinsamen Gründung des HIH als Public-Private-Partnership und seiner Department-Struktur ein starker Impuls zur Erneuerung der Forschungslandschaft in Deutschland gelungen ist. Ich bin überzeugt von der Zukunftsfähigkeit dieses Modells und gratuliere zu 20 Jahren Spitzenleistungen auch im Namen der gesamten Stiftung«, so Weise.
Digitale Festwoche
Das HIH feiert sein 20-jähriges Bestehen mit einer digitalen Festwoche seit Montag, 25. Oktober, auf seiner Webseite ( www.hih-tuebingen.de). Die Feierlichkeiten in Präsensform werden aufgrund der aktuellen Situation auf nächstes Jahr verschoben. (u)