TÜBINGEN. Ruhig, fast in sich gekehrt, sitzt ein Mann in einem Lehnstuhl. Alles an seiner Erscheinung weist auf einen gediegenen, ja luxuriösen Habitus und Lifestyle hin: das dicke, nach den Seiten überhängende Kissen, das feine Ärmelgewand unter dem Mantel, die glatte Rasur, das schon zurückweichende, aber wohlfrisierte Haar. Der Kopf ist gesenkt; der Blick des reifen Männergesichtes mit den markant eingegrabenen Zügen geht sinnend zur Seite. Die Unterarme der gut lebensgroßen Statue sind nicht erhalten, doch was immer die Hände hielten, mit den Gedanken ist der Dargestellte ohnehin anderswo.
Abguss auch auf Hohentübingen
Wer ist dieser nicht mehr junge, aber noch lange nicht greisenhafte Mann? Seine prägnanten Züge sind in über 70 – zum Teil stark untereinander abweichenden – antiken Bildnisköpfen überliefert, alles sogenannte Repliken eines offenbar ebenso bekannten wie beliebten Porträts. Dank einiger weniger beschrifteter Exemplare können die Uni-Mitarbeiter den Dargestellten mittlerweile sicher benennen. Es handelt sich um den Athener Komödiendichter Menander (342–290), zu Lebzeiten leidlich erfolgreich, nach seinem Tode und bis in die Spätantike aber einer der meistgelesenen antiken Autoren überhaupt.
Die zahlreichen Wiederholungen seines Porträts weisen auf die Existenz einer prominenten Vorlage hin, und tatsächlich ist bei den Ausgrabungen im Athener Dionysos-Theater am südlichen Abhang der Akropolis eine große, mindestens 1,5 Meter hohe Basis aufgefunden worden, die nach Ausweis ihrer Inschrift eine wohl bronzene Statue des Menander trug. Nach dieser Statue, die die Athener wohl bald nach dem Tod des Dichters am Ort seines dramatischen Wirkens aufstellten – gewissermaßen eine posthume Ehrung fürs Lebenswerk –, dürften die heute erhaltenen Kopien des Kopfes und, die weitaus selteneren des gesamten Statuenkörpers angefertigt worden sein.
An keinem Statuentorso ist der originale Kopf
Allerdings ist keiner der vielen Porträtköpfe mit seinem ursprünglichen Körper überliefert, an keinem Statuentorso der originale Kopf erhalten. So hat es einigen archäologischen Spürsinns bedurft, bis ihre Zusammengehörigkeit aufgrund von Übereinstimmungen im Faltenwurf und des Nackenhaars festgestellt werden könnte. 1990 gelang schließlich dem Göttinger Archäologen Klaus Fittschen 1990 aus Gipsabgüssen nach einem Kopf in Venedig und einem Statuentorso in Neapel die Rekonstruktion einer Statue, die eigentlich schon verloren war. Seit 2012 steht ein solcher rekonstruierter Abguss auch im Museum Alte Kulturen auf Hohentübingen; deutlich erkennbar ist daran noch immer die Naht zwischen dem Torso und dem Kopf, dessen Brustausschnitt noch besonders viel von der ursprünglichen Gewandung überliefert.
In der ursprünglichen Aufstellung waren die Füße der Statue etwa auf Augenhöhe des Betrachters; Menander stand den Besuchern des Dionysos-Theaters also nicht, wie die Aufstellung des Tübinger Gipses suggerieren könnte, in einem unmittelbaren Auf-Du-und-Du gegenüber, sondern war als literarische Größe herausgehoben und den am gleichen Ort errichteten Statuen der großen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides an die Seite gestellt. (eg)