Die Forderungen der Oberbürgermeister im Wortlaut:
"Die Kommunen sind die Keimzelle der Demokratie. Hier kommen Menschen zusammen und handeln gemeinsam. Hier werden Gesetze und Vorschriften zu Realität. Hier zählt die Praxis und das Ergebnis.
In der Bewältigung der Corona-Krise lag der Fokus bisher zu stark auf der Seite von Normen und Verordnungen. Den Kommunen wurde lediglich die Aufgabe zugewiesen, die Vorschriften durchzusetzen. Im Großen und Ganzen ist dies auch gelungen. Landkreise, Städte und Gemeinden haben sich dabei erneut als zuverlässige Partner der Regierungen in Bund und Ländern erwiesen.
Ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie ist es aber an der Zeit, der kommunalen Ebene mehr Verantwortung zu übertragen. Wir haben viel über Corona und geeignete Gegenmaßnahmen gelernt. Allgemeine Kontaktbeschränkungen als Hauptinstrument der Pandemieabwehr nehmen zu wenig Rücksicht auf das Individuum, und die schädlichen Wirkungen der Lockdown-Maßnahmen auf Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft nehmen immer weiter zu. Ein rein virologischer Blick auf die Gesellschaft wird deren Komplexität nicht gerecht. Wir benötigen flexible, ortsangepasste und praktisch umsetzbare Lösungen.
Daher schlägt jetzt die Stunde der Kommunen. Vor Ort können innovative Lösungen mit der Bürgerschaft entwickelt, erprobt und praktiziert werden. Vor Ort kommen Freiheit und Verantwortung zusammen. Die Informations- und Entscheidungswege sind in der Kommune kurz. Wenn etwas vor Ort nicht so funktioniert wie gedacht, dann wird das schneller erkannt und korrigiert als auf dem Weg über Stuttgart, Schwerin, Düsseldorf oder Berlin.
Wir schlagen den Gesetzgebern in Bund und Ländern vor, die Stärken der Kommunen mehr zu nutzen und jetzt mehr Entscheidungsspielräume und Kompetenzen auf dieser Ebene zu schaffen. Rostock, Münster und Tübingen haben je eigene Wege zur Bekämpfung der Pandemie beschritten, die sich als erfolgreich erwiesen haben. Die Inzidenz in allen drei Städten liegt seit vier Wochen unter 50 und aktuell unter 35. Öffnungen in unseren Städten wären also nach den bundesweit entwickelten Maßstäben des Infektionsschutzgesetzes möglich. Dennoch stecken wir im Lockdown fest, weil wir vor Ort nur verschärfende Maßnahmen beschließen dürfen, aber keine Abweichungen oder Lockerungen von den Vorgaben der Länder. Das sollte sich ändern. Wo die Pandemie nachweislich gut unter Kontrolle ist und Konzepte für verantwortliche Öffnungen vorliegen, sollte dies jetzt gestattet werden.
Mit den neuen Schnelltests zur Selbstanwendung steht ein Instrument zur Verfügung, das für einen präzise definierten Zeitraum die Nutzung von Gastronomie, Hotellerie, Kultur, Sport und Einzelhandel erlauben würde, ohne ein relevantes Infektionsrisiko einzugehen. Die Menschen könnten sich frei testen und erst dann die Angebote ihrer Wahl nutzen. Unsere Städte sind stark genug, die dafür notwendige Infrastruktur rasch aufzubauen, wenn wir es nur dürften.
Auch die Nachverfolgung, die uns bisher leider nur mit eher antiquierten Methoden möglich ist, könnten wir mit moderner Datentechnik auf ein neues Niveau bringen. Apps wie Luca würden die Öffnung von Einrichtungen mittels einer Check-in Funktion erlauben, endlich die direkte Kontaktverfolgung und sofortige Quarantänewarnung im Infektionsfall sicherstellen. Wenn der Bund keine Corona-App entwickeln will, die wirklich einen Beitrag zur Kontaktverfolgung leistet, so sollte er kommunalen Lösungen zumindest den Weg ebnen.
Dies sind nur zwei Beispiele für lokal einsetzbare Lösungen. Viele weitere sind denkbar und werden in unterschiedlichen Orten und Formen auch schon angewandt. Wir sind überzeugt, dass wir in unseren Städten Konzepte für die kommenden Wochen entwickelt haben, die Freiheit und Gesundheit vereinen lassen.
Bund und Länder sollten daher die Steuerung aller Maßnahmen über den Inzidenzwert ganzer Bundesländer aufgeben und durch einen sachlich und lokal differenzierten Maßstab ersetzen. Am besten geeignet erscheint uns eine Ampelregelung, die neben der Anzahl der positiven Tests weitere Faktoren zu einem Ampelbild Grün-Gelb-Rot zusammenbindet. Dabei muss zwingend die Testhäufigkeit berücksichtigt werden, weil gute Konzepte immer dazu führen, dass mehr Fälle entdeckt werden. Das darf nicht zu einem Nachteil werden. Angesichts des Fortschritts bei der Impfung der Risikogruppe koppelt sich die Anzahl der Hospitalisierungen und die Auslastung der Intensivbetten immer mehr von der Inzidenz ab. Entsprechend gewichtiger werden diese Faktoren für ein korrektes Lagebild.
In Rostock wurde unter der Überschrift »Pilot Rostock« ein Konzeptpapier entwickelt, das Rahmenbedingungen für regionale Öffnungsschritte skizziert. Dabei wird auf digitale Kontaktverfolgung und Tests gesetzt. Zur Bestimmung des aktuellen Infektionsgeschehens und der sich daraus ergebenen Maßnahmen wird eine Rostocker Ampel genutzt, die die Sieben-Tage-Inzidenz um weitere Daten ergänzt. Für das Paket gibt es Rückenwind aus der Einwohnerschaft und aus der Kommunalpolitik, aus Kammern, Verbänden und vom Verbraucherschutz sowie Unterstützung auf Landesebene.
Kommunen und Kreise, die nach diesem Maßstab im grünen Bereich sind wie unsere drei Städte, sollten das Recht erhalten, Öffnungskonzepte zu entwickeln und dem jeweiligen Landesgesundheitsamt zur Genehmigung vorzulegen. Wechselt eine grüne Kommune infolgedessen in die gelbe Phase, muss sie Anpassungen vornehmen; wird sie rot, treten die lokalen Konzepte außer Kraft. Mit einem solchen System könnten Öffnungen schneller und besser gelingen. Wir appellieren an die Regierungen in Bund und Ländern, auf die Kompetenz und Selbstverantwortung der kommunalen Ebene mehr zu vertrauen als bisher. Unser Leitbild sind die mündigen Bürger vor Ort, auf deren Urteilskraft und Kooperationswille wir bauen." (pm)