Logo
Aktuell Corona

Bitte berühren - Wie Physiotherapeuten dem Coronavirus trotzen

Lucian Kokott lebt vom Anfassen. Als Physiotherapeut legt er ständig Hand an Menschen an. Für ihn und seine Berufskollegen ist die Corona-Pandemie existenzbedrohend.

Lucian Kokott, Physiotherapeut, behandelt in seiner Praxis einen Patienten. Foto: dpa
Lucian Kokott, Physiotherapeut, behandelt in seiner Praxis einen Patienten.
Foto: dpa
TÜBINGEN. Lucian Kokott verfolgt seine Patienten bis zur Toilette, sobald sie seine Praxis betreten. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie lässt der Physiotherapeut niemanden mehr ohne Waschgang in seine Räume. Wer eine Behandlung möchte, muss sich zuerst die Hände schrubben - Kokott und seine Mitarbeiter kontrollieren das penibel.

Der 55-Jährige macht tagein, tagaus, was Politiker und Virologen derzeit allen anderen streng verbieten: Er kommt Menschen nahe. Er fasst sie an, knetet Füße und streicht über Köpfe. Anders funktioniert sein Beruf nicht. Physiotherapie ohne Körperkontakt wäre ähnlich zielführend wie ein Fußballspiel ohne Fußball. Abstand halten? Nicht vorgesehen.

Kokott hat eine Praxis für Krankengymnastik und Sportphysiotherapie in Tübingen. Wie seine Berufskollegen darf er seiner Arbeit weiter nachgehen, sofern er die Hygieneempfehlungen des Robert-Koch-Instituts einhält. Demnach sollen Patienten, wenn möglich, zu Bewegungen angeleitet statt angefasst werden. Wenn Patienten Erkältungssymptome zeigen, sollen ihre Termine verschoben werden - genauso jene von Menschen, die Kontakt zu Infizierten hatten oder in Einrichtungen mit hohen Fallzahlen wohnen. Behandlungsbänke und Therapiematerial sind nach jeder Anwendung zu desinfizieren.

Für Kokott bedeutet das nach eigenen Angaben nur wenig Mehraufwand. »Wir waren schon vorher ziemlich pingelig«, sagt er. Neu ist neben der strengen Aufsicht übers Händewaschen, dass er und seine Mitarbeiter mit Mundschutz und Handschuhen arbeiten. Das Gesundheitsamt hat eine Ration geliefert - zum Glück. Kokotts eigene Bestellversuche scheitern derzeit an Lieferengpässen und Wartezeiten von knapp zwei Monaten.

Bundesweit gibt es nach Angaben des Deutschen Verbands für Physiotherapie 40 000 ambulante Physiotherapiepraxen. Sie verzeichnen seit der Corona-Krise einen Patientenrückgang von bis zu 90 Prozent. Viele seien in ihrer Existenz bedroht, teilte eine Sprecherin mit. Die flächendeckende und wohnortnahe Physiotherapieversorgung sei sehr gefährdet.

Lucian Kokott betreibt seine Praxis seit mehr als 20 Jahren. Seit 33 Jahren arbeitet er als Physiotherapeut. Seine Ausbildung hat er an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Tübingen gemacht. Seitdem betreut er Menschen mit orthopädischen Beschwerden und Sportverletzungen, mit Wirbelsäulen-Problemen und Migräne, auch ganze Baseball- und Basketballmannschaften.

Das Schöne an seinem Beruf? »Ich versuche, Menschen zu helfen und ihnen ihre Schmerzen zu nehmen.« Die Praxis vorläufig dicht zu machen ist für ihn keine Option. »Wer frisch an der Schulter operiert wurde, muss behandelt werden«, sagt Kokott. Wellness-Behandlungen und Massagen, die seine Praxis sonst auch anbietet, versucht er derzeit zu verschieben.

Im Empfangsbereich hat er die Stühle auseinandergerückt. Wartezeiten müssen seine Patienten aber momentan ohnehin nicht überbrücken - das Coronavirus hat auch in seinen Kalender Lücken gerissen. Zwischen 50 und 80 Prozent weniger Patienten als sonst kommen derzeit in Kokotts Praxis - entsprechend hoch sind seine Einbußen.

Seine acht Mitarbeiter hat Kokott in Kurzarbeit geschickt. »Gott sei Dank dürfen wir überhaupt noch arbeiten. Sonst müssten wir vielleicht Leute entlassen«, sagt er. Mit seiner Frau, die in der Praxis die Büroarbeit verantwortet, diskutiert er allabendlich die drängenden Fragen: Wie die Mitarbeiter schützen? Welche Fördergelder beantragen? Wie weitermachen?

Auch mit seinen Patienten spricht er viel - seit jeher, das gehört zu seinem Berufsethos. Hauptsächlich aus fachlichen Gründen: Er will, dass seine Patienten ihre Probleme verstehen - und was er als Physiotherapeut dagegen tut. Doch drehen sich die Gespräche fast nur noch um ein Thema: »Corona dominiert. Die Menschen haben ihre Ängste.« Die Leute treibe um, dass sie ihre Enkel nicht mehr sehen dürfen oder ihre Kinder finanzielle Probleme bekommen könnten.

Im Zuhören hat Kokott Übung: »Menschen, die Schmerzen haben, sind in der Regel nicht gut drauf. Ich bin schon immer so eine Art Hobbypsychologe.« (dpa)