STRASSBURG. Sechs Wochen vor dem Brexit-Datum sind die Chancen für ein glimpfliches Ende völlig offen. »Das Risiko eines No-Deal bleibt sehr real«, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg.
Die Europäische Union wolle eine Vereinbarung mit Großbritannien und werde intensiv daran arbeiten. Das Parlament plädierten mit einer großen Mehrheit von 544 zu 126 Stimmen dafür, das Austrittsdatum 31. Oktober notfalls weiter aufzuschieben. 38 Abgeordnete enthielten sich. Allerdings warnt die Wirtschaft inzwischen vor einer endlosen Hängepartie.
Juncker unterrichtete das EU-Parlament über sein Gespräch mit dem britischen Premierminister Boris Johnson am Montag. Johnson wolle Großbritannien in jedem Fall am 31. Oktober aus der EU herausführen, ob mit oder ohne Austrittsvertrag.
Knackpunkt ist nach Junckers Worten immer noch die Vermeidung einer festen Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland. Die EU warte weiter auf konkrete Vorschläge aus London, wie die im Vertrag enthaltene Garantieklausel, der sogenannte Backstop, ersetzt werden könne.
Juncker sprach nun auch offiziell von neuen »Verhandlungen« mit der britischen Seite - obwohl die EU das lange ausgeschlossen hatte. Er sagte auch: »Ich habe keine emotionale Bindung an den Backstop.« Nur die damit verbundenen Ziele müssten erfüllt werden. Deshalb habe er Johnson gebeten, schriftlich Alternativen vorzulegen. Die Verhandlungen sollten auf politischer Ebene geführt werden, also von EU-Chefunterhändler Michel Barnier. Juncker sagte: »Ich bin nicht sicher, ob wir Erfolg haben werden, es bleibt wenig Zeit. Aber ich bin sicher, dass wir es versuchen müssen.«
Barnier warnte noch einmal eindrücklich vor den »erheblichen« Folgen eines Brexits ohne Vertrag. Die Bürger verdienten die Wahrheit darüber. Befürchtet werden unter anderem Versorgungsengpässe in Großbritannien und eine Konjunkturdelle, aber auch Jobverluste in Deutschland, wie der Industrieverband BDI in Erinnerung rief.
Es könne eine »hohe fünfstellige« Zahl von Arbeitsplätzen betroffen sein. BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang warnte deshalb vor einem Austritt ohne Vertrag, aber auch vor einer kurzfristigen weiteren Verschiebung ohne klares Ziel. Eine mögliche Fristverlängerung vergrößere die Unsicherheit für die Unternehmen.
Eine große Mehrheit der Europaabgeordneten stimmte jedoch für eine Resolution, in der eine nochmalige Fristverlängerung in Aussicht gestellt wird. Die Grünen-Abgeordnete Terry Reintke sagte, viele Menschen hätten inzwischen die Nase voll von der Brexit-Debatte. Doch wäre es ein »Alptraum«, wenn der Aufschub nicht gewährt würde. Nötig sei mehr Zeit, um einen Ausweg aus der Blockade zu finden.
Die sozialdemokratische Fraktionschefin Iratxe García Pérez sagte: »Wenn Großbritannien noch mehr Zeit braucht oder ein neues Referendum durchführen möchte, können sie auf unsere Unterstützung zählen.« Und auch der Fraktionschef der Christdemokraten, Manfred Weber, meinte: »Die Bürger in Großbritannien sollten über die Zukunft entscheiden.«
Johnson hat einen Antrag auf weiteren Aufschub ausgeschlossen, obwohl das britische Parlament ihn per Gesetz dazu verpflichtet hat, falls bis 19. Oktober keine Einigung mit der EU gefunden wird. Der britische Premier pocht auf einen Deal beim EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober. Doch ist unbekannt, welche Lösung er anvisiert. In jedem Fall wird die Zeit sehr knapp. Denn das EU-Parlament will über eine etwaige Vereinbarung erst abstimmen, wenn das britische Unterhaus sie angenommen hat.
Johnson steht in Großbritannien massiv unter Druck. Am Dienstag hatte vor dem obersten britischen Gericht die Anhörung im Streit über die von Johnson auferlegte Zwangspause des Parlaments begonnen. Kritiker sagen, die überlange Sitzungsunterbrechung bis 14. Oktober solle die Abgeordneten im Brexit-Streit kalt stellen. Eine Entscheidung des Gerichts wird für Freitag erwartet. (dpa)