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Aktuell Großbritannien

Brexit-Folgen stinken zum Himmel

Vergammelnde Meeresfrüchte und verrottende Schweinehälften. Johnsons falsche Versprechungen

Aus Protest gegen Probleme beim Export von Fisch nach Europa im Zuge des Brexit haben Fischer ihre Lkw in der Nähe der Londoner
Aus Protest gegen Probleme beim Export von Fisch nach Europa im Zuge des Brexit haben Fischer ihre Lkw in der Nähe der Londoner Downing Street abgestellt. FOTO: GRANT/AP/DPA
Aus Protest gegen Probleme beim Export von Fisch nach Europa im Zuge des Brexit haben Fischer ihre Lkw in der Nähe der Londoner Downing Street abgestellt. FOTO: GRANT/AP/DPA

LONDON. Beschlagnahmte Schinkenstullen, verrottende Schweinehälften, Meeresfrüchte, die vergammeln: Die unschönen Folgen des Brexit stinken zum Himmel. Am ersten Januar begann für Großbritannien und die EU ein neues Handelsregime. Und kaum etwas mehr als drei Wochen danach wird deutlich, dass der Warenverkehr alles andere als reibungslos läuft. Die Tatsache, dass das Königreich für die EU jetzt ein Drittland geworden ist, hat zu zahlreichen Problemen für die britische Wirtschaft geführt.

Am Heiligabend kam der Durchbruch. Nach jahrelangen zähen Verhandlungen konnten sich kurz vor Weihnachten die Verhandlungsdelegationen der EU und Großbritanniens auf ein Handels- und Kooperationsabkommen einigen. Der britische Premierminister Boris Johnson setzte kurzerhand eine Pressekonferenz in der Downing Street an und begrüßte die Vereinbarung enthusiastisch, weil sie »Jobs in diesem Land beschützt« und es »britischen Waren erlaubt, in der EU ohne Zölle und Mengenbeschränkungen verkauft zu werden«. Und dann versicherte er der Nation: »Es wird keine nicht-tarifären Handelshemmnisse geben.«

Wie falsch er doch lag. Genau das ist jetzt das große Problem für die britische Volkswirtschaft: Handelshemmnisse auf breiter Front. Ein neues Regime des Warenhandels hat den zuvor reibungslos verlaufenden Güterverkehr ersetzt. Nicht-tarifäre Hemmnisse sind all jene Vorschriften, die es Exporteuren erlauben, ihre Güter in die EU einzuführen. Zwar müssen grundsätzlich keine Zölle bezahlt und Kontingente eingehalten werden, aber dafür gibt es von nun an eine labyrinthisch anmutende Bürokratie zu beachten: Ausfuhrerklärungen, Herkunftsnachweise, Atteste, Sicherheitsdeklarationen, Waren-Codes, Lieferanten-Statements, Gesundheitszeugnisse und einiges mehr. Das Papierkrieg zu nennen, wäre ein Understatement.

Beispiel sanitäre Standards. Bei der Einfuhr von Tier- und Pflanzenprodukten in die EU gelten strenge Vorschriften. »Willkommen zum Brexit«, begründete ein niederländischer Zollbeamter die Beschlagnahmung einer Schinkenstulle, die ein britischer Lkw-Fahrer im Fährhafen Hoek van Holland einschmuggeln wollte. Währenddessen verrotten in Rotterdam Tonnen von Schweinefleisch, weil der britische Exporteur die Ausfuhrformulare nicht korrekt ausgefüllt hatte. Schlimm trifft es auch die schottischen Fischer, die ihren schnell verderblichen Fang an Schalen- und Krustentieren aufgrund der bürokratischen Vorschriften nicht rechtzeitig an ihre französischen Abnehmer liefern können. Als Protest schickten sie fünf riesige Sattelschlepper nach London, die in der Regierungszentrale den Verkehr lahmlegten. Sie trugen die Aufschrift: »Die inkompetente Regierung zerstört unsere Fischerei«. Gerade die Fischer, die zu den enthusiastischsten Brexit-Fans gehören, fühlen sich jetzt verraten und verkauft.

»Fische sind jetzt britisch und deswegen bessere und glücklichere Fische«

Beide Seiten haben noch nicht gelernt, wie sie das komplizierte System der Zollerklärungen navigieren sollen. Einer der größten Spediteure Deutschlands hat deswegen vorerst den Lieferverkehr ins Königreich storniert. Der Logistikkonzern DB Schenker nimmt bis auf Weiteres keine Fuhren an, weil nur zehn Prozent der deutschen Kunden die korrekten Frachtdokumente für die Lieferungen nach Großbritannien vorlegen können. Das Unternehmen »Jellyworks« führt Pflaster, Thermometer und Erste-Hilfe-Kits in sechs EU-Länder aus. Sein Geschäftsführer klagte: »Wir haben mehr als 20 Bestellungen in der EU feststecken. Wenn wir nicht sechs Mehrwertsteuer-Nummern für jedes Export-Land bekommen und einen EU-Finanzvertreter engagieren, der uns jährlich 7 000 Pfund kostet, werden sie wieder zurückgeschickt.«

Britische Firmen, die EU-Waren importieren, müssen sich mit dem überlasteten staatlichen Computersystem »Chief« herumschlagen, das schlicht überfordert ist. Unter anderem auch deswegen, weil die Zollerklärungen, die im letzten Jahr 55 Millionen betrugen, auf rund 270 Millionen Erklärungen in diesem Jahr anwachsen werden. Daniel Lambert, der Weine aus ganz Europa nach Großbritannien einführt, sieht die Existenz seiner Firma bedroht. »Wie können wir jetzt im Jahr 2021«, sagt er, »immer noch dieses antiquierte System benutzen, wenn wir 2016 wussten, dass wir die EU verlassen.«

Die Regierung dagegen spricht von Startschwierigkeiten. Sicherlich werden sich Import und Export langfristig wieder in geölteren Bahnen bewegen können. Aber die Kosten bleiben. Umgerechnet rund 8,5 Milliarden Euro.

Eingefleischte Brexiteers sehen in dem Gejammer über Unkosten nur die kleinliche Aufrechnerei derjenigen, die sich über die neugewonnene Souveränität nicht freuen können. »Das Wichtigste ist doch«, mokierte sich der Parlamentsvorsitzende Jacob Rees-Mogg, »dass wir wieder unsere Fische zurückhaben. Sie sind jetzt britisch und deswegen bessere und glücklichere Fische.« (GEA)