Logo
Aktuell Außenhandel

Diese Erfahrungen haben Firmen aus der Region mit dem Brexit gemacht

Unternehmen hatten sich bereits auf das Schlimmste vorbereitet - einen ungeregelten EU-Ausstieg der Briten. Eine Firma aus Pliezhausen profitiert jetzt sogar.

REUTLINGEN/TÜBINGEN/PLIEZHAUSEN. Der nun doch nicht ganz so hart ausgefallene Brexit hat die Firmen in der Region nicht unvorbereitet getroffen. Gerade Unternehmen, die einen regen Handel und enge geschäftliche Verbindungen mit Großbritannien pflegen, hatten sich bereits lange vor dem Stichtag 1. Januar, an dem das Vereinigte Königreich bekanntlich aus der EU und der Zollunion ausgetreten ist, darauf vorbereitet.

Martin Fahling von der Industrie- und Handelskammer Reutlingen, Experte für internationale Wirtschaftsfragen, fasste es im Gespräch mit dem GEA zusammen: »Die Unternehmen hatten sich bereits seit der Volksabstimmung über den EU-Austritt Großbritanniens im Jahr 2016 auf das Schlimmste vorbereitet, nämlich den Brexit ohne Vertrag. Niemand hat sich ausgeruht. Sie wollten damit auch das befürchtete Chaos verhindern.«

Es herrsche jetzt Erleichterung, dass es nicht zu einem ungeregelten Brexit gekommen sei. Gleichzeitig sei es für die Firmen auch ernüchternd, dass Großbritannien jetzt wirtschaftlich zu einem Drittland geworden sei. Für Handel und Warenfluss bedeute der EU-Austritt auf jeden Fall einen größeren administrativen und bürokratischen Aufwand. Allein das würden die Firmen in der Region schon als unbefriedigend empfinden. Dennoch sei es auch erkennbar, dass sich der Handel mit Großbritannien trotz der höheren Hürden einspielen werde.

Vor Weihnachten gab es Chaos und Megastaus in Südengland: wegen Corona

Direkte Erfahrungen, wie es mit dem Grenzverkehr zwischen europäischen Festland und der britischen Hauptinsel zum Jahreswechsel abgelaufen ist, konnte die Reutlinger Spedition Willi Betz vor Ort machen. Sven Hess, verantwortlich für das internationale Netzwerk der Firma, beschrieb zunächst die dramatische Situation kurz vor Weihnachten. So hätten etwa 20 Betz-Lastwagen in dem Megastau in Südengland gestanden, weil Frankreich wegen Corona kurzfristig die Grenzen dichtgemacht hatte. Die Lkw-Fahrer durften nur mit einem negativen Coronatest weiterfahren. Die Bilder gingen um die Welt und mancher Beobachter zeichnete ein Schreckgespenst: So könne es auch ablaufen, wenn der »No-Deal-Brexit« komme. Für die Reutlinger Spedition bedeuteten die Verzögerungen, dass keiner der Fahrer an Weihnachten zu Hause bei ihren jeweiligen Familien gewesen sei, erläuterte Hess.

Lastwagenstau als mögliches Szenario für die Folgen eines »No-Deal-Brexit«?

Derzeit plane die Spedition eher kurzfristig beim Verkehr von und nach Großbritannien. »Wir sind jetzt gerade Lernende. Nach dem Jahreswechsel steuerten unsere Lastwagen zunächst nicht mehr in Richtung England, aktuell normalisiert sich alles. Nach dem Chaos über Weihnachten in Südengland ist die Motivation der Fahrer allerdings gering, wieder dorthin zu fahren«, erläuterte Hess die momentane Lage.

Es sei gut, dass in letzter Minute doch zu einem Handelsabkommen mit der EU unterzeichnet worden sei. Grenzverkehr sei jetzt vergleichbar mit der Schweiz, EU-Genehmigungen würden anerkannt, das würde die Sache erleichtern. Dennoch rechnet Hess in der Zukunft mit größerem administrativem und bürokratischem Aufwand. »So empfehlen wir unseren Fahrern grundsätzlich, ab jetzt bei Fahrten nach Großbritannien nicht nur den Personalausweis, sondern auch ihren Reisepass mitzuführen«, sagte Hess.

Auch andere Unternehmen in der Region haben sich auf den Brexit vorbereitet. Alle zeigten sich erleichtert, dass es nicht zu einem harten Brexit gekommen ist. »Andernfalls hätten ab 1. Januar 2021 die allgemeinen Zollbestimmungen gegolten«, teilte der Metzinger Modekonzern Hugo Boss mit. Trotzdem komme Mehrarbeit auf das Unternehmen zu: »Der Aufwand im Versandprozess ist seit dem 1. Januar gestiegen, da im Rahmen des Abkommens nun auch Zollanmeldungen für Sendungen notwendig sind. Solche Verzollungsprozesse können die Lieferzeit um ein bis zwei Tage verlängern«, heißt es weiter. Im Klartext: mehr Bürokratie, mehr Aufwand. Die Bedingungen hätten sich verschlechtert, die Warenversorgung sei aber sichergestellt.

Von mehr Aufwand und höheren Kosten im Handel mit Großbritannien ist auch beim Tübinger Medizintechnikhersteller Erbe die Rede. Als Beispiele dafür nennt das Tübinger Unternehmen andere Zulassungsverfahren und Registrierungen für Produkte: »UKCA soll die CE-Kennzeichnung ersetzen«, hieß es. Das Unternehmen habe schon vor dem Brexit Warenlager vor Ort aufgebaut. Jetzt gehe es auch darum, den Warenverkehr auf die neuen bürokratischen Regeln hin abzustimmen. Das bedeute: »Regelmäßige Abstimmung mit den zuständigen Transportdienstleistern, um eventuellen Engpässen am Eurotunnel entgegenzuwirken«, erläuterte das Unternehmen. Erbe blickt trotz der veränderten Lage verhalten positiv in die Zukunft, wenn auch längerfristig: »Die Geschäfte in UK werden weiter als sehr wichtig für Erbe erachtet. Substanzielle Umsatzsteigerungen sind in den nächsten fünf Jahren geplant.«

Britisches Unternehmen Renishaw stärkt Standort Pliezhausen massiv

Unter speziellen Vorzeichen ist das Unternehmen Renishaw in den Brexit gegangen. Die Firma in Pliezhausen ist eine Tochter des britischen Herstellers von industrieller Messtechnik und medizinischen Geräten unter anderem für die Neurochirurgie und für Zahnersatzteilprothesen. Renishaw hat seinen Firmensitz zwar in Großbritannien, macht aber 95 Prozent seines Umsatzes außerhalb des Vereinigten Königreiches. Fertigungsstandorte befinden sich unter anderen in Irland, Deutschland, den USA und Indien.

Das Unternehmen hat nach eigenen Angaben bereits unmittelbar nach der Volksabstimmung zum Brexit im Jahr 2016 ein Brexit-Team berufen, um alle Risiken und Chancen zu bewerten, die mit dem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU – mit oder ohne »Deal« – zusammenhängen. Danach seien neue und erweiterte Logistikzentren in Irland und Deutschland aufgebaut und die Lagerbestände in der gesamten EU aufgestockt worden. Den Warenverkehr über den Ärmelkanal umschifft Renishaw im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser geht vom europäischen Festland direkt in die irische Hauptstadt Dublin. Die Währung bleibt der Euro.

Investitionen von etwa zehn Millionen Euro 

Letztendlich habe der Brexit für den Standort in Pliezhausen positive Folgen. Im Gespräch mit dem GEA erklärte Geschäftsführer Heiko Müller das so: »Wir gehen gestärkt aus dieser Entwicklung hervor, denn wir werden die Servicezentrale für Europa und neben Dublin eines der zentralen Lager für das Unternehmen haben.« Das bedeute, Geräte, die zur Reparatur oder zum Service müssten, werden nicht mehr nach England geschickt, sondern nach Pliezhausen gehen. Der Lagerbestand sei deutlich erhöht worden: »Das war eine Investition von 10 Millionen Euro«, sagte er. Auch das Zentrallager der Firma habe sich vor dem Brexit in England befunden. Jetzt heißen die Standorte Dublin und Pliezhausen.

Deshalb blickt Müller für Pliezhausen optimistisch in die Zukunft: »Wir spielen in Pliezhausen eine viel wichtigere Rolle, wir investieren und benötigen voraussichtlich auch neue Mitarbeiter.« (GEA)