REUTLINGEN. »SSV, SSV, SSV«, hallt es durch das Reutlinger Kreuzeiche-Stadion kurz vor dem Anpfiff des Fußball-Oberligaspiels des SSV Reutlingen gegen den 1. FC Rielasingen-Arlen (0:3) – und zwar so laut, als würden die Ultra-Fans des Szene E in ihrem Stammblock auf der Haupttribüne stehen. Doch stattdessen heizen die Fans hinter dem Stadion der Mannschaft ein. Erstmals in der Geschichte der Oberliga sind Zuschauer von einem Spiel ausgeschlossen. Das hat das Sportgericht entschieden, nachdem beim Derby am 3. November zwischen dem SSV und den Stuttgarter Kickers (2:2) Pyrotechnik im Gäste-Fanblock gezündet worden ist.
Ganz leer ist das Kreuzeiche-Stadion trotzdem nicht. Beide Vereine konnten beim Württembergischen Fußball-Verband (WFV) je 20 Leute auf eine Liste setzen lassen, die auf die Tribüne dürfen. Beim SSV sind das vor allem Funktionäre und ehrenamtliche Mitarbeiter. Auch Medienvertreter haben Zutritt. An einem Nebeneingang lassen Mitarbeiter eines Ordnungsdienstes nur die ins Stadion, deren Namen auf der Liste stehen. Von den 40 Zuschauern auf den Rängen ist nichts zu hören. Auch nichts von etwa 30 Fans, die das Spiel hinter einem Tor von Block zwei beobachten. Als ein Regenschauer einsetzt, spannen sie ihre Regenschirme auf und harren aus. Dafür sind die Trainer und Spieler auf dem Rasen besser zu verstehen, wie sie Anweisungen rufen oder sich aufregen nach einer scheinbar falschen Schiedsrichter-Entscheidung.
»Das war etwas komplett anderes, als wir gewohnt sind«, erzählt Pierre Eiberger von seiner Erfahrung beim Geisterspiel. Für den SSV-Kapitän hat der Zuschauer-Ausschluss seinen Teil zur zweiten Heimniederlage beigetragen. »Die Fans sind zu Hause ein Vorteil für uns. Sie kitzeln aus manchen oft die fehlenden zehn Prozent an Leistung raus.«
Die Fans stehen während des Spiels hinter der Haupttribüne unter einem kleinen Zelt dicht an dicht. Sie verfolgen das Spiel im Livestream auf zwei Fernsehern bei einem Public Viewing, das die Szene E organisiert hat. Wer allerdings keinen Platz in einer der vorderen Reihen ergattert hat, sieht nicht viel. Weil die Bildqualität mau ist, sind die Spieler kaum zu erkennen. Wie es steht, wissen viele auch nach Schlusspfiff noch nicht, weil im Livestream fälschlicherweise immer 0:0 als Ergebnis eingeblendet ist. Viele interessiert das Spielgeschehen aber auch nur am Rande, sie stehen oder sitzen in Grüppchen zusammen, plaudern fröhlich. Sie unterstützen ihren SSV lieber, indem sie essen, trinken und Geisterspiel-Tickets kaufen. Denn alle Einnahmen kommen dem Verein zugute.
Etwa 400 Leute sind im Laufe des Nachmittags trotz Regenwetters auf dem Fan-Fest der Szene E gewesen, schätzt Jochen Noack. »Das Essen war ausverkauft«, sagt der zu den Organisatoren zählende Noack. »Tausend Dank vom SSV, was die Szene E hier veranstaltet hat«, freut sich Dr. Karsten Amann, Gesamtvereins-Präsident des SSV, »das war die beste Antwort, die wir auf dieses Urteil geben konnten«. 4 000 bis 5 000 Euro an einkalkulierten Einnahmen, je nach Zuschaueraufkommen, gehen dem SSV mit dem Geisterspiel durch die Lappen.
Dass der Verein nun mit einem Gewinn aus dem Geisterspiel geht, hat mit einer Crowd-Founding-Aktion der Ultra-Fans zu tun. 18 311,11 Euro sind dabei bis gestern um 20 Uhr zusammengekommen. Das Fan-Fest am Samstag spült mit Geisterspiel-Tickets, Spenden, Wurst- und Getränkeverkauf 7 155 Euro in die Kasse. »Wir bedanken uns für diese Solidarität«, sagt Fabian Maier, Sprecher der Szene E. »Vielleicht schaffen wir noch 19 050 Euro, das wäre ein symbolischer Betrag für den SSV Reutlingen 1905.« (GEA)