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Tag des offenen Denkmals: Baukörper im Geist der Zeit

Beim Tag des offenen Denkmals blickten 900 Besucher hinter Türen, die sonst oft verschlossen bleiben

Ein beliebter Klassiker ist am Tag des Denkmals der Besuch des Großen Sitzungssaals im Landratsamt. fotos (3): niethammer
Ein beliebter Klassiker ist am Tag des Denkmals der Besuch des Großen Sitzungssaals im Landratsamt. Foto: Markus Niethammer
Ein beliebter Klassiker ist am Tag des Denkmals der Besuch des Großen Sitzungssaals im Landratsamt.
Foto: Markus Niethammer

REUTLINGEN. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert gibt der bundesweite Tag des offenen Denkmals am zweiten Septembersonntag Gelegenheit, Gebäude und Einrichtungen zu besichtigen, die ihre Pforten sonst nur sporadisch oder gar nicht für Besucher öffnen. »Modern(e): Umbrüche in Kunst und Architektur« lautete das diesjährige Thema, ausgehend vom 100-Jahre-Bauhaus-Jubiläum. Doch neue Kunst- und Baustile, den häufig durch technischen Fortschritt verursachten Bruch mit Traditionen, hat es über die Jahrhunderte immer wieder gegeben. Und so rückte das Thema des Denkmaltags bewusst auch die früheren Epochenumbrüche in den Blick.

In Reutlingen umfasste das Programm neben »alten Bekannten« – wie etwa Marienkirche, großer Sitzungssaal des Landratsamts, Gartentor, historische Stadtmauerhäuser, Gratianusstiftung, Industriemagazin oder Freibad Markwasen, die im Rahmen des Denkmaltags schon öfter Besichtigungen und Führungen angeboten hatten, – auch einige Premieren. So stand das Achalmbad zum ersten Mal für Besucher offen, die nicht zum Schwimmen, sondern aus architekturgeschichtlichem Interesse kamen.

Im Gartentor konnte das Gefängnis besichtigt werden.
Im Gartentor konnte das Gefängnis besichtigt werden. Foto: Markus Niethammer
Im Gartentor konnte das Gefängnis besichtigt werden.
Foto: Markus Niethammer
»Ob Schuhwichsdose oder Kathedrale – der Zweck sollte nun das Aussehen bestimmen«

Insgesamt haben rund 900 Interessierte Denkmäler in Reutlingen besucht. Allein rund 300 Menschen informierten sich über die Stadtmauerhäuser. Vorgesehen waren ursprünglich zwei Führungen. Wegen des Andrangs gab es eine weitere. Und auch der Andrang am Gartentor war mit 200 Besuchern groß.

Bei zwei Führungen im Achalmbad mit jeweils gut 20 Teilnehmern ordnete der Reutlinger Kunsthistoriker Thomas Braun das 1929 eröffnete Bad zunächst in die Bau- und Sozialgeschichte ein und erläuterte die Ideen des 1907 gegründeten Deutschen Werkbunds als Reaktion auf die historisierenden Baustile der vorhergehenden Jahrzehnte. »Ob bei der Schuhwichsdose oder der Kathedrale – der Zweck sollte nun das Aussehen bestimmen, statt umgekehrt.«

Die Schwimmhalle des Achalmbads mit der charakteristischen Decke. Auch die Wanduhr ist noch original. fotos (2): schäle-schmitt
Die Schwimmhalle des Achalmbads mit der charakteristischen Decke. Auch die Wanduhr ist noch original. fotos (2): schäle-schmitt Foto: Elke Schäle-Schmitt
Die Schwimmhalle des Achalmbads mit der charakteristischen Decke. Auch die Wanduhr ist noch original. fotos (2): schäle-schmitt
Foto: Elke Schäle-Schmitt

Nicht nur das Bauhaus vollzog dabei einen radikalen Schnitt zur Tradition. »Warum wurde damals überhaupt ein Hallenbad gebaut?«, lautete eine zweite Fragestellung von Thomas Braun. »In den späten 1920er-Jahren florierte die Wirtschaft, sodass in vielen Städten Großvorhaben angegangen werden konnten. Die Absicht, die mit dem Hallenbad verfolgt wurde, war jedoch das Gegenteil eines heutigen Spaßbads.« Körperertüchtigung und Hygiene standen im Vordergrund. Es sollten außer der Schwimmhalle auch Brause- und Wannenbäder entstehen, die seinerzeit in den meisten Privathaushalten fehlten.

»Die kalt wirkende Sichtbeton-Architektur mit etwas Schönem ergänzen«

Den 1927 vom Stadtrat beschlossenen Architektenwettbewerb gewann der gebürtige Reutlinger Gottlob Schaupp, der damals in Frankfurt lebte und wirkte. Sein betont nüchterner Entwurf mit großen Fenstern, Flachdach und ausgewogen dimensionierten kubischen Baukörpern für die verschiedenen Nutzungsbereiche entsprach ganz dem Geist der Zeit. Anfang der 1980er-Jahre wurde das Bad mit einem großen Umbau an die geänderten Bedürfnisse angepasst.

Winni Victor im Atelier ihres Vaters, das sie heute als Arbeitsraum nutzt.
Winni Victor im Atelier ihres Vaters, das sie heute als Arbeitsraum nutzt. Foto: Elke Schäle-Schmitt
Winni Victor im Atelier ihres Vaters, das sie heute als Arbeitsraum nutzt.
Foto: Elke Schäle-Schmitt

»Einzig in der Schwimmhalle mit ihrer auf Betonpfeilern lastenden Statik ist der ursprüngliche Entwurf noch zu erkennen«, erläuterte Braun in der Halle, die von den Besuchern mit blauen Plastiküberschuhen bei laufendem Badebetrieb betreten werden durfte. Keine Überschuhe benötigte man – trotz Dauerregens draußen –, um von der Reutlinger Regisseurin Winni Victor ins Atelier ihres 2014 verstorbenen Vaters eingelassen zu werden – auch das eine Premiere im Rahmen des Denkmaltags. Der aus den Niederlanden stammende Maler und Grafiker Winand Victor schuf von 1956 bis 1971 rund 60 Betonglasfenster für öffentliche Gebäude, Privathäuser und Kirchen. »Manche Leute wollten die kalt wirkende moderne Sichtbeton-Architektur bewusst mit etwas Schönem ergänzen und gaben für ihr Treppenhaus anstelle der üblichen Glasbausteine ein gestaltetes Fenster in Auftrag.«

Die Arbeitersiedlung Gmindersdorf war in ihrer Gestalt und ihrem sozialpolitischen Konzept zu Beginn des 20. Jahrhunderts richtu
Die Arbeitersiedlung Gmindersdorf war in ihrer Gestalt und ihrem sozialpolitischen Konzept zu Beginn des 20. Jahrhunderts richtungsweisend. Foto: Markus Niethammer
Die Arbeitersiedlung Gmindersdorf war in ihrer Gestalt und ihrem sozialpolitischen Konzept zu Beginn des 20. Jahrhunderts richtungsweisend.
Foto: Markus Niethammer

Viele dieser Werke wurden später bei Umbauten zerstört. Einige wenige kamen 1971 von einer Baustelle zurück, weil sie das falsche Maß hatten. »Die standen hier immer nur herum«, erzählte Winni Victor den Besuchern. Erst in dem Windfang, der in den letzten Lebensjahren ihres Vaters ans Atelier angebaut wurde, fanden die Fenster Verwendung, sodass sie nun beim Denkmaltag besichtigt werden konnten. Ein von Winni Victor zum 100. Geburtstag ihres Vaters herausgegebener Bildband »Winand Victor – Glasfenster«, der vor wenigen Wochen bei Oertel + Spörer erschienen ist, enthält neben einem Werkverzeichnis auch Entwürfe des Künstlers. Anhand der Fotos konnte Victor den Besuchern am Sonntag auch die verloren gegangenen Fenster zeigen, etwa das aus der neuapostolischen Kirche in Pliezhausen. »Wunderschön, eine Art Dornenkrone«, erläuterte Victor, »aber leider nicht mehr vorhanden.«

Dass man auch anders hätte vorgehen können, zeigt ein Beispiel aus Mössingen. Das dort ausgebaute runde Fenster wurde der Familie zurückgegeben und lehnt heute im Atelier an der Wand. »In Nagold rettete eine zufällig vorbeikommende Frau zwei Fenster vor dem Bauschuttcontainer«, erzählte Victor. »Die schmücken heute als Lichtskulptur den Weg zur neuen Kirche.« (GEA)