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Aktuell Gesellschaft

Stadtforscher fordert mehr Mut bei Entwicklung neuer Wohngebiete

Stadtforscher Gerd Kuhn nimmt die aktuellen Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt bei einem Vortrag an der Evangelischen Hochschule auf dem Campus Reutlingen kritisch unter die Lupe.

Nicht nur im Ringelbach-Areal fordert der Wissenschaftler mehr Partizipation.  FOTO: STADT
Nicht nur im Ringelbach-Areal fordert der Wissenschaftler mehr Partizipation. FOTO: STADT
Nicht nur im Ringelbach-Areal fordert der Wissenschaftler mehr Partizipation. FOTO: STADT

REUTLINGEN. »Der zunehmende Ausschluss von Menschen vom Grundrecht auf Wohnen ist ein Skandal! Wohnen als Sozial- und Wirtschaftsgut hat sich zum bloßen Wirtschaftsgut gewandelt.« Mit diesen klaren Worten beschrieb der Wohnsoziologe und Stadtforscher Dr. Gerd Kuhn die aktuellen Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt bei einem Vortrag an der Evangelischen Hochschule auf dem Campus Reutlingen.

860 000 Menschen in Deutschland leben ohne eine Wohnung; die Mietbelastung bei den unteren Einkommensschichten liegt bei über 50 Prozent des Haushaltseinkommens; für Sozialwohnungen wird in ganz Deutschland gerade einmal so viel investiert wie alleine in der Stadt Wien. Die Baulandpreise explodieren, die Gentrifizierung, also die Verdrängung der statusärmeren durch die statushöhere Bevölkerung, nimmt zu und führt zu einer wachsenden sozialräumlichen Spaltung von Arm und Reich. Doch je größer die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Deutschen und Migranten, desto größer die Gefahr von Parallelgesellschaften. »Gewalt und Angst entstehen durch räumliche Trennung.« Durchmischte Quartiere seien nachweislich wertbeständiger als homogene Quartiere.

»Reutlingen braucht mehr Experimente, Wohnen hat sich radikal gewandelt«

»Grundstücke dürfen nicht länger nach Höchstgebot, sondern müssen nach Gemeinwohlorientierung vergeben werden«, war deswegen eine der Empfehlungen des renommierten Stadtforschers. »Die Gemeinden müssen Strukturen schaffen, die der Spekulation entzogen werden«, etwa durch im Grundbuch abgesicherte langfristige Bindungen. Es bedürfe einer nachhaltigen kommunalen Bodenvorratspolitik, wo städtischer Boden nur noch an gemeinnützige Projekte mit langfristigen Verträgen vergeben werde. Gutes Wohnen würde immer noch viel zu beschränkt auf die eigene Wohnung gedacht, »aber gutes Wohnen heißt Wohnen im Quartierskontext«.

In der von Stephan Thalheim moderierten Diskussion mit Fachleuten konnte der Tübinger Wissenschaftler mit fundierten Kenntnissen auch zu Reutlingen aufwarten. Er sieht hier viele Entwicklungschancen, »aber manchmal agiert die Reutlinger Wohnungspolitik mehr wie ein Dorf als eine Großstadt.« Im Hinblick auf das neue Viertel im Ringelbach und andere Reutlinger Entwicklungsgebiete wie Rappertshofen fordert Kuhn: »Reutlingen braucht mehr Wohnexperimente, denn Wohnen hat sich radikal gewandelt.«

Dafür bedürfe es klarer Vorgaben des Gemeinderats an die Verwaltung und partizipativer Prozesse mit Fachleuten und Bürgern, die der Frage nachgehen, wie wir zusammenleben wollen. »Es gibt keine gute Stadtentwicklung ohne Partizipation, Stadtplanung ist Gemeinwesenarbeit.«

»Manchmal agiert die Reutlinger Wohnungs- politik mehr wie im Dorf«

Kommunale Wohnungsbaugesellschaften spielten in diesen Prozessen eine zentrale Rolle, so Kuhn, der auch Aufsichtsratsvorsitzender des Bau- und Heimstättenvereins Stuttgart ist. »Wohnungsbaugesellschaften sind nicht für den Ausgleich kommunaler Haushalte da, sondern dem Allgemeinwohl verpflichtet, um für breite Bevölkerungsschichten bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und wo nötig regulativ in den Markt einzugreifen.«

Gerd Kuhns abschließender Wunsch aus der Nachbarstadt: »Ich wünsche Reutlingen mehr Mut und demokratische Prozesse in der Quartiersentwicklung!« (GEA)