REUTLINGEN. Manche sind einfach neugierig, andere wittern einen handfesten Skandal. Bricht die Stadt auf der Lederstraße ihre Versprechungen? Wird die sogenannte Umweltspur wissentlich weiterhin nachmittags gesperrt, obwohl die Verwaltung diese vom 19. April an zwischen 15.30 und 18 Uhr eigentlich freigegeben hatte? Das wollten mehrere Leser schon Anfang Juli vom GEA wissen, jüngst trudelten weitere Mails mit Beweisbildern von der gesperrten Spur mit entsprechenden Zeit-Nachweisen ein.
Lars Oehme, im Reutlinger Rathaus Fachgebietsleiter Verkehrstechnik, kann die aufgeregten Gemüter beruhigen. Es werde keine Abmachung gebrochen und auch niemand hinters Licht geführt, betont er. Wer die Verwaltungsvorlage vom Frühling aufmerksam liest, der merkt schnell, dass Oehme recht hat. So heißt es darin, dass die Spursperrung zu den genannten Zeiten werktags »mit Ausnahme von Feiertagen und Ferien bis auf Weiteres aufgehoben« wird. Da aktuell Sommerferien sind, ist die Spur also ganztägig gesperrt.
Anfang Juli waren jedoch noch keine Ferien. Eine GEA-Leserin schilderte damals, dass die Spur nur einmal am Freitagnachmittag geöffnet gewesen sei. Sonst nicht. Auch sie fühle sich von der Stadt hinters Licht geführt, schildert sie in einer Mail. Die von ihr beschriebenen Vorgänge kann sich Fachgebietsleiter Oehme nicht erklären. Wann welches Lichtzeichen an- und ausgeht, sei über eine Zeitschaltuhr geregelt, sagt er. Bei einem Übertragungsfehler bekomme das Rathaus eine entsprechende Fehlermeldung. Eine solche sei in den letzten Wochen und Monaten aber nicht eingegangen.
Gesunkene Werte und großer Druck aus dem Gemeinderat
Kleiner Straßenabschnitt, große Emotionen: Die Umweltspur ist in Reutlingen weiterhin ein absolutes Politikum. Eigentlich hätte die Verwaltung die Spur am liebsten gar nicht geöffnet, nicht mal temporär. Aus Angst, dass die Messwerte an der Station in der Lederstraße wieder steigen und damit wieder das Damoklesschwert Dieselfahrverbote über der Stadt schwebt.
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Der Druck aus mehreren Gemeinderatsfraktionen wurde im Frühjahr 2023 dann aber zu groß. Außerdem war die Argumentation der Verwaltung für eine dauerhafte Sperrung nur noch bedingt haltbar. Schließlich waren die Messwerte in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. So kam es also nach Absprache mit dem Tübinger Regierungspräsidium im April zur Teilzeit-Freigabe der Spur. Diese gilt nun vorerst bis auf weiteres.
Noch ein bisschen nachjustiert
Im Mai musste die Verwaltung dann noch nachjustieren, schildert Fachgebietsleiter Oehme. Zwar war das rote »X« auf der rechten Tafel an der Schilderbrücke wie versprochen zwischen 15.30 und 18 Uhr verschwunden. Für viele Autofahrer war eine Öffnung der Spur damit aber noch nicht offensichtlich genug. Es leuchtete nämlich einfach gar kein Zeichen mehr. »Zur besseren Verständlichkeit« habe man nachgebessert, so Oehme. In den besagten zweieinhalb Stunden leuchtet seitdem auch rechts ein grüner Freigabe-Pfeil.
Hat sich die Spuröffnung negativ auf die Luftqualität ausgewirkt? Das hatten Gegner dieses Schritts befürchtet. In der Vorlage der Stadtverwaltung vom April heißt es: »Der Stadtverwaltung wird dabei dafür Sorge tragen, dass auch die Anwohnerinnen und Anwohner der Lederstraße Luft atmen können, die ihre Gesundheit nicht durch zu hohe Luftschadstoffbelastungen gefährdet.«
Ein Blick auf die Website der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg zeigt: Schlechter geworden ist die Luftqualität in den vergangenen Wochen durch die Öffnung nicht. Das sagen zumindest die öffentlich verfügbaren Daten. Der Stickstoffdioxid-Jahresmittelwert lag im Juli 2023 mit 30 Mikrogramm auf einem historischen Tiefstand. Zum Vergleich: Im Juli 2016, also noch deutlich vor der Spursperrung, waren 68 Mikrogramm im Jahresmittelwert gemessen worden. Im Juli 2020, also im ersten Corona-Jahr, immerhin noch 39 Mikrogramm. Selbes Bild ergibt sich, wenn man das Jahr 2022 und das erste Halbjahr 2023 miteinander vergleicht. Während der Mittelwert 2022 bei 32 Mikrogramm lag, waren es im ersten Halbjahr 2023 nur noch 29 Mikrogramm. (GEA)