REUTLINGEN. Schätzungsweise 3 200 Wochenmärkte gibt es in Deutschland. Dazu kommen ungezählte Regionalmärkte wie der Neigschmeckt-Markt. In Planie und Stadtgarten beginnt am Sonntag, 22. Juli, die 15. Auflage um 10 Uhr mit einem ökumenischen Gottesdienst. Von 11 bis 19 Uhr bieten 160 Anbieter qualitativ hochwertige, fantasievoll verarbeitete Nahrungsmittel an, servieren regionale Gastronomen kulinarische Köstlichkeiten, zeigen handwerkliche Betriebe ihre kreative Vielfalt in der Verarbeitung regionaler Materialien.
Natur- und Umweltschutz gehören ebenso zu den wichtigen Themen des Neigschmeckt-Marktes. Auch umweltschonende Mobilität und Informationen zu Ressourcen sparendem Wohnen stoßen seit Jahren auf großes Interesse. »Zentrale Bedeutung hat für uns die Regionalität«, sagt Karin Zäh, die den Neigschmeckt-Markt zusammen mit Gabriele Janz organisiert. Dem Duo steht der Reutlinger General-Anzeiger seit dem ersten Neigschmeckt-Markt als Medienpartner zur Seite.
Im Stadtgarten erwartet die Besucher ein kunsthandwerklicher Markt und Mitmachaktionen für Kinder und Erwachsene. Allen, die nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Markt kommen können oder wollen, wird wie in den Jahren zuvor ein kostenfreier Busshuttle angeboten. Erstmals dabei sind eine Gärtnerei und ein Anbieter für Gartenmöbel. Auch für Greenpeace ist es eine Premiere.
Die Technischen Betriebsdienste (TBR) zeigen, wie sich Müll vermeiden lässt, ein Thema, das Karin Zäh und Gabriele Janz seit Jahren auf der Agenda haben. »Plakate vom Neigschmeckt-Markt, die übrig bleiben, werden zu Taschen recycelt«, sagt Karin Zäh. »Und die Aussteller sind angehalten, kein Plastik zu verwenden«, ergänzt Gabriele Janz. Das gilt vor allem für Kaffeetassen und Kaffeelöffel. Der Eintritt beträgt zwei Euro. Kinder bis 12 Jahre kommen umsonst auf den Neigschmeckt-Markt.
Als Karin Zäh und Gabriele Janz den Markt 2004 das erste Mal organisierten, konnten sie nicht ahnen, dass er schon wenige Jahre später nicht mehr aus dem städtischen Veranstaltungskalender wegzudenken war. Dabei war die Erfolgsgeschichte fast schon programmiert, weil sich Märkte – sofern sie vielfältig genug sind – immer wieder erstaunlich entwickeln.
Seit der Mensch Lebensmittel produziert und er mehr produziert, als er selbst verbrauchen kann, gibt es Märkte. Sie sind seit Beginn der Zivilisation Schnittpunkte von Stadt und Land und Zentren lokaler Wirtschaftsräume. Was in Dörfern oder Klöstern hergestellt wurde, wurde auf den städtischen Märkten angeboten. Und was die Städter verstärkt kauften, bestimmte umgekehrt das, was auf dem Land produziert wurde.
Märkte als Nachrichtenbörsen
Darüber hinaus waren Märkte immer auch Nachrichtenbörsen. Händler, die aus anderen Gegenden in die Stadt kamen, hatten nicht nur Kohl, Kartoffeln und Möhren im Angebot, sondern auch Neuigkeiten. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen war fast ebenso wichtig wie der Kauf von frischen Produkten. Märkte waren also nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und sinnliche Veranstaltungen mit hohem Unterhaltungswert.
Wer heute über Märkte wie den Neigschmeckt-Markt schlendert, spürt dem Terroir der Lebensmittel nach. Dieser Begriff wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich für Käse, Fleisch oder Kräuter verwendet und beschrieb Boden und Klima der jeweiligen Region. Später bezog sich »Terroir« vor allem auf den Weinbau: Wie ist das Klima, die Bodenbeschaffenheit, die Sonneneinstrahlung? Heute wollen Kunden wissen, wo das Korn für das Brot herkommt und wie die Kuh aufwächst, die die Milch für den Käse liefert. Und wie lange das Schwein leben darf, damit es ordentlich Gewicht ansetzen kann. Treibhausware, die keine Sonne gesehen und kein Lüftchen gespürt hat, hat bei dieser Klientel jedenfalls keine Chance. Das Problem: Die internationale Lebensmittelproduktion ist ständig auf der Suche nach Absatzmärkten. Gewachsene, regionale Strukturen sind dabei oft genug im Weg. Es kann passieren, dass lokale Märkte genauso verschwinden wie regionale Pflanzensorten oder Tierrassen.
Auch jahrhundertealte Herstellungstechniken gehen verloren, weil kleine Manufakturen nicht konkurrieren können mit der Massenproduktion. Beispiel Käseherstellung: 95 Prozent der angebotenen Käsesorten sind reine Industrieprodukte – durchgestylt, designed, mit eingebauter Reifegarantie, angereichert mit jedem nur denkbaren Aroma. Die Käsetheken in Supermärkten brauchen einen Lagerverwalter und keinen Fromager-Affineur, einen Käseveredler, weil es nix zu veredeln gibt.
Erschlagen vom Angebot
Wer heute durch den Supermarkt läuft, sieht sich erschlagen vom Angebot in der Käsetheke und der Gemüseabteilung. Früher gab es so viel Auswahl nicht, denken wir glücklich und nicht ahnend, dass viele Sorten im Laufe der vergangenen hundert Jahre vom Markt verschwunden sind. Menon, so das Pseudonym eines populären französischen Kochbuchautors aus dem 18. Jahrhundert mit unbekannter Biografie, der zahlreiche Kochbücher und Kochanleitungen verfasst hat, beschrieb Rezepte mit 50 verschiedenen Gemüsesorten und 50 Kräutern. In seiner Küche verarbeitete er 41 unterschiedliche Fische, 21 Pfirsichsorten, 43 Birnensorten, 24 Pflaumensorten – Sorten, die niemand mehr mit Namen kennt.
Wer heute biologische Vielfalt sucht, muss sich an regionale Produzenten halten, denen regionale Märkte einen Absatzmarkt garantieren. Der Neigschmeckt-Markt ist so ein Markt. Er ist ein farbenprächtiger Gegenpol zur durchorganisierten, perfekt und raffiniert gestylten Welt der Supermärkte, in denen Verkaufsstrategien und Psychotricks die Kundschaft locken. Auf dem Neigschmeckt-Markt sprechen die Waren für sich und weder aufwendige Verpackung noch Billigpreise reizen zum Kauf. Hier ist es der Duft des Produktes oder der direkte Kontakt zum Produzenten, die zum Kauf verführen.
Es sind Märkte wie der Neigschmeckt-Markt, die uns bewusst machen, dass hinter dem Produkt jede Menge Arbeit steckt, bevor es zum Verkauf angeboten werden kann. Dass Käse Zeit braucht zum Reifen und Schweine artgerecht gehalten werden müssen, wenn sie gutes Fleisch liefern sollen – Wissen, das die Urgroßeltern noch hatten und das wir uns heute wieder aneignen müssen. Am Sonntag, 22. Juli, gibt es von 11 bis 19 Uhr in der Planie und im Stadtgarten dazu Gelegenheit. (GEA)