REUTLINGEN-MITTELSTADT. Sonnenuntergang über dem Meer, die letzten Strahlen färben Himmel und Wasser feuerrot. Hübsche Postkarte, denkt sich Martin Bayer. Als er sie umdreht erstarrt er, was er da liest macht ihn fassungslos.
Ein anonymer Schreiber beschwert sich, dass der 40-jährige Bäckermeister in seiner Filiale in Mittelstadt kleine Brezeln an Kinder verschenkt. Er müsse schließlich auch alles bezahlen, so der Verfasser. Außerdem wirft er Bayer vor, dass die Kunden diese kostenlosen Backwaren teuer mitfinanzieren müssten. Doch nicht nur der Bäckermeister erntet Kritik. Auch die Eltern bekommen ihr Fett weg. Alle, die nicht genug Geld haben für die Brezeln ihrer Kinder zu bezahlen, sollen »ihre Backwaren beim künftig beim Discounter kaufen«, heißt es in dem Schreiben.
»Ich war entsetzt. Auch meine Mitarbeiter. Wie kann es sein, dass sich ein erwachsener Mensch daran stört, dass wir Kindern was schenken«, echauffiert sich Bayer. »Und dann auch noch anonym. Der hätte ja auch auf mich zukommen können.« Vor elf Jahren hat der 40-Jährige die Leitung der Bäckerei zusammen mit seiner Mutter übernommen. Kurz darauf wurde der Laden umgebaut, am Tresen gibt es seither eine kleine Treppe, damit die Kinder hinaufsteigen und ihre Brezel entgegen nehmen können. Bayer verschenkt die Backwaren, um den Kleinen eine Freude zu machen und zur Kundenbindung, sagt er. Ganz nach dem Motto: Die Kinder von heute sind die Kunden von morgen.
Dass seine Produkte wegen der Gratis-Brezeln teuer sind, sei Unsinn. »Man muss auch ein bisschen nachdenken. Wenn bei einem Fußballverein ein BMW vor dem Stadion steht, weil die Firma das Team sponsert, werden auch nicht gleich alle Autos teurer«, sagt Bayer. 75 Cent kostet eine normale Brezel beim ihm. Damit liegt er absolut im Durchschnitt. Viele Reutlinger Bäcker verlangen mehr, teilweise 78 oder 80 Cent.
Über die Postkarte, die er am Dienstag erhalten hat, ärgert sich Bayer so sehr, dass er Bilder davon auf der Facebookseite der Bäckerei postet. »Ich dachte wir müssen das öffentlich machen, damit alle sehen, was für Sorgen und Probleme gewisse Menschen haben«, sagt Bayer. Die Fotos verbreiten sich rasend schnell, am Abend liegen sie in digitaler Form schon im Postfach des Reutlinger General-Anzeigers. 135 Mal wurden sie geteilt, mehr als 10.000 Menschen haben sie gesehen.
Unter den rund 160 Kommentaren findet sich kein einziger, der die Meinung des Postkartenschreibers teilt. Stattdessen hagelt es Häme und Spott. »An den guten Kunden: Wenn es dir zu teuer ist, dann kannst ja du zum Discounter«, schreibt einer. Ein anderer kommentiert: »Vielleicht sollte man dem Kartenverfasser eine Kinderbrezel anbieten, da dieses Verhalten, die Karte anonym zu versenden, einfach nur kindisch ist. Vom Inhalt mal ganz zu schweigen.«
Viele User loben die Bäckerei für ihre Aktion. Nicht nur im Netz, auch am Mittwoch im Laden. »Die meisten haben ihr Unverständnis über die Postkarte geäußert und sich bei uns bedankt«, sagt Bayer. Der Zuspruch tut ihm gut. Etwa 100 kleine Brezeln verschenkt er pro Tag an Kinder. Und er wird es weiter tun. »Jetzt erst recht.« (GEA)