REUTLINGEN. Eine Antwort auf die Frage nach dem »Warum?« gibt es für Angehörige nicht, die einen Menschen durch Suizid verloren haben. Diese Frage bleibt und schwingt nur allzu oft mit bei den Beileidsbekundungen. Angehörige müssen nicht nur den Verlust verarbeiten, sie kämpfen zudem oft mit Schuld- und Schamgefühlen sowie mit Selbstvorwürfen. Oft fühlen sie sich in der Trauer allein gelassen. Mit einem ökumenischen Gedenkgottesdienst für Angehörige nach Suizid erhalten sie die Möglichkeit zu trauern und erfahren, dass sie eben nicht allein sind, erklärte Kerstin Herr von der Reutlinger Krisenberatungsstelle des Arbeitskreises Leben (AKL).
Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland etwa 10 000 Menschen das Leben, davon sind mehr als zwei Drittel Männer. Somit sterben laut AKL jährlich mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen.
Brigitte K. sowie die Geschwister Richard und Marie K. gehören zu den 100 000 Menschen, die eine nahestehende Person durch Suizid verloren haben. Sie haben im AKL eine Anlaufstelle gefunden, wo das Thema kein Tabu ist. »Wenn man nicht über Suizid redet, wird mehr Suizid passieren«, ist Marie K. überzeugt.
Vielfältige Gründe
Sie und ihr Bruder Richard haben auf diese Weise den Vater vor fünf Jahren verloren. Zuvor hatte sich ein Onkel das Leben genommen. Ein Freund von Marie beging einen Suizidversuch. Daher interessiert sie sich dafür, was Menschen, insbesondere Männer, dazu bringt, sich das Leben nehmen zu wollen.
Die Gründe sind vielfältig. »Es ist ein Bündel aus vielen verschiedenen Themen«, sagte Kerstin Herr und zählte Beispiele auf: Konflikte in der Beziehung, Geldsorgen, Krankheit, Verlust des Berufes oder eines wichtigen Menschen. So ist der AKL mit seinen neun Fachkräften Anlaufstelle für Hinterbliebene, für Menschen, die Suizidgedanken haben und für deren Angehörige und Freunde. Außerdem betreiben sie Nachsorge für Menschen und deren Angehörige nach einem Suizidversuch. »Je tiefer der Mensch in der Krise ist, umso schwerer ist es sich selber Hilfe zu holen«, erklärte Herr. Auch bei Marie K. war es eine Freundin, die sie zur Trauergruppe brachte. »Man findet uns oft erst, wenn die Krise da ist«, sagte Bettina Guhlmann vom AKL. Damit sie früher gefunden werden und das Thema Suizid enttabuisiert wird, laden die Krisenberaterinnen zu Veranstaltungen ein, gehen an Schulen, geben Fortbildungen und halten Vorträge.
Manchmal aber gibt es keinen ersichtlichen Grund für eine Selbsttötung, wie Brigitte K. es erfahren hat. Der Suizid ihres Patensohnes kam aus heiterem Himmel und ließ sie fassungslos zurück. Nur sehr engen Freunden erzählte sie, wie er gestorben war, und erhielt von diesen »fürchterliche Reaktionen«. Inzwischen hat sie mit ihren Freunden darüber gesprochen. Diesen war damals nicht bewusst, wie verletzend sie gehandelt hatten. Sie hätte sich damals gewünscht, einfach nur in den Arm genommen zu werden. »Das muss nicht kommentiert werden«, sagte sie. Schon gar nicht, das Geschehene aufdröseln zu wollen, ergänzte sie. »Man muss sagen, wie derjenige gestorben ist, aber es fällt schwer, weil es bewertet wird«, sagte sie.
Ihrer Fassungslosigkeit hat Brigitte K. in der angeleiteten Trauergruppe des AKL Raum geben können. Auch Marie K. konnte dort offen über ihre Trauer reden, obwohl der Tod des Vaters ein paar Jahre zurücklag. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass erwartet wird, dass sich die Trauer nach einem Jahr gelegt hat. Ihr Bruder unterstützt sie auf ihrem Weg, auch wenn er gänzlich anders mit der Trauer umgeht. Er spricht von einem »Karussell der Gefühle«, das er seit dem Tod erlebt: Wut, Scham, Erleichterung. »Und all die Gefühle sind in Ordnung«, sagte Herr.
Auch per Livestream
Die drei Angehörigen gestalten neben den Seelsorgern Cornelia Eberle und Andreas Reich von der Citykirche und Mitarbeitern der Krisenberatungsstelle Reutlingen des AKL den Gedenkgottesdienst am Sonntag, 14. November, 17 Uhr, im Gemeindezentrum Hohbuch mit persönlichen Beiträgen mit. Dieses Jahr wird er auch als Livestream übertragen, um denjenigen die Teilnahme zu ermöglichen, die aufgrund von Corona oder anderen persönlichen Gründen den Besuch scheuen. Brigitte K. hat den Gottesdienst als heilsam empfunden, als sie ihn vor zwei Jahren das erste Mal besucht hatte. Er findet alle zwei Jahre im Wechsel in Tübingen und Reutlingen statt. »Der Gottesdienst ist die Möglichkeit zu zeigen, ich bin nicht allein mit dem Schicksal«, ergänzte Bettina Guhlmann. So geben die Rituale, wie das Anzünden einer Kerze für den Verstorbenen, und die persönlichen Beiträge, die zeigen, wie man sich fühlt, den Besuchern hat, erzählen Richard K. und Brigitte K., die hinzufügt: »Das tut der Seele gut.« (GEA)
IN LEBENSKRISEN
In Reutlingen können sich Menschen in Lebenskrisen und bei Selbsttötungsgefahr an die Krisenberatungsstellen wenden unter 07121 19298 oder per Mail an akl-reutlingen@ak.leben.de. Eine Online-Jugendberatung wird unter www.youth-life-line.de angeboten. Weitere Infos gibt es unter www.akl-krisenberatung.de. Auf dieser Seite ist der Gottesdienst am Veranstaltungstag, Sonntag, 14. November, 17 Uhr, live zu verfolgen. (ale)