REUTLINGEN. Bessere Arbeitsbedingungen, Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel sowie mehr finanzielle Anerkennung – das sind bundesweit die drei Hauptforderungen der Gewerkschaft Verdi, die Benjamin Stein, Bezirksgeschäftsführer der Region Fils-Neckar-Alb, gestern der Presse erläuterte. Vor allem bemängelte er das »eklatante« Fehlen von Fachkräften, was zu einem enormen Druck auf die Beschäftigten in den Bereichen Sozial- und Erziehungsdienst führe. »Über 80 Prozent der Beschäftigten in den Kindertagesstätten fühlen sich belastet, 36,5 Prozent denken über einen Stellenwechsel nach«, sagte Jonas Weber, der bei Verdi für Kitas und die Mobile Jugendarbeit zuständig ist.
Viele Alleinerziehende
Jonas Weber nannte weitere Zahlen: Mehr als 62 Prozent der pädagogischen Fachkräfte in den Kitas seien ganz allein für 13 bis über 20 Kinder zuständig. »Nur sieben Prozent gelingt es, eigene pädagogische Ansprüche in der Arbeit im Alltag umzusetzen.« Und, was sich immer noch kaum geändert hat: Die Erziehung der Kleinsten der Gesellschaft wird nach wie vor von weiblichen Fachkräften erledigt – »die Beschäftigten in Kitas sind zu 94 Prozent Frauen, davon 87 Prozent in Teilzeit«, so Weber. Viele Erzieherinnen seien alleinerziehend und müssen mit einem Teilzeitgehalt auskommen.
Eigentlich stand die Tarifrunde für die Sozial- und Erziehungsdienste schon im März vor zwei Jahren an. Doch dann kam bekanntlich Corona. Die Pandemie brachte nach den Worten der Erzieherin Martina Raiser enorme zusätzliche Probleme für das Personal in den Kindertagesstätten mit sich: Etwa eine hohe psychische Belastung, weil sich Erzieherinnen aufgrund fehlender Impfstoffe nicht schützen konnten. Laut Raiser, »wurden wir im ersten Lockdown als systemrelevant bezeichnet – davon ist jetzt keine Rede mehr«.
Begleitet werde die Pandemie »von ständig neuen Verordnungen in den Kitas. Es gibt fast keine Einrichtung, die nicht vom Fachkräftemangel betroffen ist«, sagte die Reutlinger Erzieherin. »Wir sind am Limit.«
Ähnlich ergehe es auch den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern im Streetwork, wie Nadine Behrens ausführte: Die Beschäftigten unterlägen »einer hohen psychischen Belastung, zumal unsere Sozialarbeiter in der Pandemie einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt sind«. Auch in diesem Bereich fehle der Nachwuchs – was sowohl mit der Schwere der Arbeit, aber auch der mangelnden Wertschätzung sowie der nicht gerade üppigen Bezahlung zusammenhänge.
»Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist hart«, resümierte Benjamin Stein. Madeleine Glaser, die bei Verdi für die kirchlichen und freien Träger zuständig ist, hob hervor: »Unsere Forderungen betreffen alle Arbeitgeber, denn auch die freien Träger müssen sich an tarifliche Vereinbarungen halten, wenn sie überhaupt noch Personal finden wollen.«
Ausbildungsoffensive
Verdi fordere Entlastungen für die Beschäftigten, »denn die Arbeit ist extrem verdichtet«, so Glaser. Aufgrund des Fachkräftemangels sei ein enormer Druck auf das Personal, auf die Träger, aber auch auf die Eltern entstanden. »Eine breit angelegte Ausbildungsoffensive ist dringend notwendig«, sagte Madeleine Glaser.
Der erste Verhandlungstag mit dem Verband der kommunalen Arbeitgeber steht laut Benjamin Stein am 25. Februar an, weitere folgen am 21. und 22. März. »Dann werden wir durch unsere fünf Landkreise tingeln und zu Arbeitskampfmaßnahmen und Streiks aufrufen.« Streiks würden sich nicht gegen Eltern oder Angehörige richten – »uns ist bewusst, dass Streiks einfacher sind, wenn man Autos baut, aber wir müssen das tun«, versicherte Stein. (nol)