REUTLINGEN. Die Täterinnen und Täter gehen sehr perfide vor. Sie suchen sich ihre jugendlichen, oft minderjährigen Opfer auf Gaming- oder Social-Media-Plattformen gezielt aus. Meist benutzen sie dabei gefälschte Identitäten, geben sich jünger aus als sie sind. Über einen längeren Zeitraum erschleichen sie sich dann das Vertrauen der Kinder. Die Methode wird Cyber-Grooming genannt. Sie heucheln viel Verständnis für die Sorgen und Probleme der teilweise sehr jungen Mädchen und Jungs vor. Wenn die Nähe dann erreicht, das Vertrauen gewonnen ist, zeigen die erwachsenen Täter, worauf sie wirklich aus sind: Sie wollen Kinder sexuell missbrauchen.
In Tübingen gingen in den vergangenen Wochen vor dem Landgericht zwei Prozesse zu Ende, in denen es in erster Linie genau um dieses Thema ging, um den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Ausnutzung digitaler Medien. Die sehr manipulativen Täter brachten die Kinder dazu, sich auszuziehen, sich selbst zu befriedigen und davon Fotos und Videos zu machen und ihnen zu schicken. In beiden Fällen waren zusammen über 70 minderjährige Mädchen die Opfer.
Beratungsanfragen steigen seit Jahren immens an
»Die digitale sexualisierte Gewalt ist genauso schlimm wie die analoge. Sie erschüttert die Betroffenen sehr«, weiß Dorothee Himpele aus Erfahrung. Die Trauma-Therapeutin ist Geschäftsführerin von »Wirbelwind«. Der Reutlinger Verein kümmert sich mit Präventions- und Beratungsangeboten um Menschen, die in Kindheit und Jugend Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Im Jahr 2014 installierte »Wirbelwind« in seinen Räumen eine der ersten Fachberatungsstellen in Baden-Württemberg, die ein Angebot zum Thema »digitale sexualisierte Gewalt« hatten. »Seit Jahren steigen die Beratungsanfragen immens«, sagt Diplom-Pädagogin Manuela Lieb, ebenfalls Geschäftsführerin bei »Wirbelwind«, was inzwischen dazu führte, dass der ehemals ehrenamtlich arbeitende Verein (gegründet 1992) heute fünf Personen mit einem Stellenumfang von 375 Prozent beschäftigt, die unter anderem vom Kreis Reutlingen und vom Land finanziert werden. Trotzdem ist »Wirbelwind« bei vielen Projekten immer noch sehr stark auf Spenden angewiesen.
Dies gilt auch für das spezielle Projekt »Digitale sexualisierte Gewalt«. Wie geht »Wirbelwind« bei diesem Thema vor? Auf welchen Gebieten ist der Verein tätig? Da wäre zuerst einmal die Prävention. »Wir gehen in die Schulen, ab Klasse 5«, erzählt Dorothee Himpele. In den Gesprächen mit den Kindern gehe es aber nicht darum, das Internet zu verteufeln, merkt Manuela Lieb an. Vielmehr wolle man die Kinder und Jugendlichen auf die Gefahren, die es im digitalen wie auch im analogen Raum gebe, aufmerksam machen: »Es geht nicht darum, den Kindern den Medienkonsum zu verbieten, sondern gemeinsam zu erarbeiten, was sie brauchen, um sich sicherer im Internet bewegen zu können«.
Zum Aufklärungsprogramm von »Wirbelwind« gehören auch Elternabende. Beim Thema »digitale sexualisierte Gewalt« sei es eine der Hauptaufgaben des Vereins, mit den Eltern gemeinsame Wege zu finden, »wie sie ihre Kinder so begleiten können, dass sie gut mit digitalen Geräten, wie Smartphones oder Tablets, umgehen können«, erklärte Himpele. Wichtig sei zudem, den Eltern aufzuzeigen, was sie tun können, wenn einmal etwas passiert ist. Sie dürften dann nicht den Kindern die Schuld geben oder Vorwürfe machen, sondern müssten begreifen, wie manipulativ die Täter seien, um danach mit den Kindern gemeinsam Lösungen zu finden, das Geschehene aufzuarbeiten.
Wenn etwas passiert ist, dann rückt die Beratungsstelle von »Wirbelwind« vor Ort in Reutlingen in den Fokus. Himpele: »Die betroffenen Kinder und Jugendlichen kommen meist über Erwachsene, Eltern oder Fachkräfte zu uns. Wir machen dann einen Beratungstermin aus.« Manchmal seien es auch nur die Eltern, die sich alleine Rat holten. Inhalt dieser Gespräche seien die individuellen Bedürfnisse und Anliegen der Ratsuchenden. Dies reiche von der psychosozialen Unterstützung der Betroffenen über Unterstützungsbedarf für das Umfeld bis zu technischen, rechtlichen Fragen, auch beispielsweise bei Themen wie Cyberharrassement (ungewolltes Empfangen von sexuellen Nachrichten), Deep Fake (gefälschte Medieninhalte) oder Sextortion (Erpressung mit intimen Bildern).
Online-Beratung für Jugendliche
»Wir haben zudem eine Online-Beratung«, berichtet Himpele. Dies sei quasi »ein sicherer E-Mail-Verkehr«. Diese Beratungsmöglichkeit werde mehr von Jugendlichen genutzt. Für sie sei es häufig leichter, beim ersten Mal über das Geschehene schriftlich zu erzählen: »Zu schreiben ist dann einfacher, als jetzt hierherzukommen und jemandem gegenüberzusitzen und über das Geschehene zu reden.«
Was für Himpele und Lieb ganz wichtig ist: Die Beratung ist kostenlos. Es dürfe nicht sein, dass »Menschen keine Unterstützung kriegen, weil sie die Beratung nicht bezahlen können«, so Himpele. Diese Beratungsgespräche würden zum Teil vom Landkreis finanziert, aber vieles laufe auch über Spenden.
Oft melden sich Fachkräfte, beispielsweise aus der Schulsozialarbeit oder der Jugendhilfe, bei »Wirbelwind«. Auch richtet der Verein gezielt Qualifizierungsangebote an Fachkräfte im Gesundheitswesen, um sie für das Thema »sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend« zu sensibilisieren, berichtet Himpele. Deshalb sei die Unterstützung, Beratung und Weiterbildung dieser Fachkräfte von großer Bedeutung. Dies sei ein weiteres Hauptaufgabengebiet von »Wirbelwind«.
Auf Spenden dringend angewiesen
Die digitale Welt bleibt aber nicht stehen. »Wir können uns gar nicht so schnell updaten, wie sich die Technik verändert«, meint Himpele. Deshalb müssen sich auch die »Wirbelwind«-Therapeutinnen und -Pädagoginnen samt ihrer Honorarkräfte ständig weiterbilden. Und wenn es technisch einmal zu kompliziert wird, holen sie sich Rat bei Fachkräften, die ihnen das nötige Know-how vermitteln: »Wir haben immer die Möglichkeit, dann Menschen anzurufen, die uns unterstützen können.«
Im Bereich »digitale sexualisierte Gewalt« muss wegen dieser schnellen technischen Veränderungen auch das Angebot ständig angepasst werden. Und genau dafür braucht »Wirbelwind« dringend Spenden. Die methodisch-didaktische Vorgehensweise und deren Inhalte müssten überarbeiten werden, weil sie teilweise nicht mehr zeitgemäß seien, so Himpele. Auch die Schulung der Honorarkräfte müsse auf dem neuesten Stand sein. »Wirbelwind« will zudem die Elternabende weiterentwickeln und die Informationsmaterialien, vor allem für Erwachsene (Eltern wie Fachkräfte), neu erarbeiten, »die wir dann bei Anfragen in der Beratung und Prävention herausgeben können«. (GEA)
Kriminacht und Wirbelwind
Der Erlös der diesjährigen, inzwischen restlos ausverkauften Benefiz-Kriminacht , am Freitag, 5. Dezember, 19 Uhr, am Burgplatz geht an den Reutlinger Verein »Wirbelwind« für das Projekt »Digitale sexualisierte Gewalt«. Die Kreissparkasse unterstützt die Veranstaltung mit 2.000 Euro. Spenden kann man auch unabhängig von einem Kriminacht-Besuch, auf das »Wirbelwind«-Konto bei der KSK Reutlingen IBAN DE64 6405 0000 0000 0716 99 mit dem Stichwort »Kriminacht«. (vit)


