REUTLINGEN. Kindergärten, Pflegedienste, Krankenhäuser und Behinderten-Einrichtungen – ohne freiwillige Helfer würden all diese Institutionen, die zunehmend unter Personalmangel ächzen, nicht funktionieren. Und bezahlbar wären sie für Normalverdiener ohne kostengünstige Laien-Kräfte schon lange nicht mehr. Kein Wunder also, dass in unregelmäßigen Abständen Rufe laut werden, die die Einführung eines verpflichtenden sozialen Jahres fordern. Das war schon kurz nach Abschaffung von Wehrpflicht und Zivildienst anno 2011 so, das wurde jüngst wieder von CDU-Chef Friedrich Merz aufs politische Tapet gebracht. Wobei Merz für seinen Vorstoß heftigen Gegenwind erntete. Und wie weht der Wind bei diesem Thema in Reutlingen? Der GEA hakte bei Passanten auf der Wilhelmstraße nach: Was halten sie von Verpflichtung statt Freiwilligkeit?
»Überhaupt nichts. Ein Pflichtjahr? Nein danke«, sagt Nils Schneider (20) und begründet seine ablehnende Haltung damit, dass Zwänge gerade in sensiblen Berufsfeldern wie der Senioren- und Krankenpflege kontraproduktiv seien. »Es wäre fatal, wenn junge Leute, die dazu keinen Bock haben, auf Alte und Kranke losgelassen würden. Auch dem Profi-Personal würde man einen Bärendienst erweisen. Denn das wäre nicht nur über-, sondern überüberlastet, müsste es on top auch noch unmotivierte Handlanger mitschleppen.«
»Ist das Angebot attraktiv, wird es auf Zuspruch stoßen«
Eine Auffassung, die von Ruth Dörfel ganz und gar nicht geteilt wird – weil es ja schließlich neben der Pflege viele Bereiche gibt, in denen sich Schulabgänger einbringen könnten, etwa bei Naturschutzverbänden, dem Technischen Hilfswerk oder in der Flüchtlingsarbeit. »Da ist für jeden etwas dabei«, ist die Neu-Reutlingerin überzeugt. Gebürtig aus Dresden stammend, hat sie vor etlichen Jahren selbst ein Freiwilliges Jahr in einem Meißener Familienzentrum absolviert und während ihres ehrenamtlichen Einsatzes durchweg gute Erfahrungen gesammelt. »Ich würde es wieder machen und kann es nur empfehlen«, betont Dörfel, der die Freiwilligkeit solcher Dienste für die Allgemeinheit allerdings wichtig ist. Von Zwängen hält sie nichts. Wohl aber davon, mehr Anreize fürs Freiwillige Sozialjahr zu schaffen – etwa einen leichteren Zugang zu Studienfächern mit Numerus clausus oder zu BAföG.
In diese Richtung argumentiert auch Marcel Wüst. »Am Ende muss es so etwas wie ein Zeugnis oder Zertifikat geben und der Dienst wie ein Berufspraktikum anrechenbar sein. Dann wär’s für mich okay. Dann hätte ich neben dem Sammeln von Erfahrungen auch einen handfesten Vorteil.« Profitieren könnten Absolventen eines »Anti-Egoismus-Jahres« nach Meinung des 27-Jährigen auch dann, wenn sie erste Rentenpunkte verbuchen könnten. »Wenn der Staat ein paar Bonbons mehr verteilt, müsste er vermutlich gar keine Dienstpflicht einführen. Ist das Angebot attraktiv, wird es auf freiwilligen Zuspruch stoßen.«
Jedoch nicht bei Sandrine Bernard, die es empörend findet, Jugendliche als »Lückenbüßer abzukommandieren«. »Wenn im sozialen Bereich die Gehälter und Arbeitsbedingungen stimmen würden, gäbe es garantiert keine Personalengpässe«, sagt die 50-Jährige. Überhaupt: »Warum sozial? Es gibt zahllose weitere Branchen, die Nachwuchssorgen haben. Wenn ein Dienstjahr, wie von Politikern immer wieder betont, bei der Berufsorientierung unterstützen soll, weshalb nicht im vom Fachkräftemangel geplagten Handwerk oder in der Gastronomie?«
Und was denkt Felix Bauer? »Dass Verpflichtung das Recht auf Selbstbestimmung aushebelt. Deshalb bin ich strikt gegen staatlich ausgeübten Zwang. Mal ganz davon abgesehen, dass die Einführung eines Pflichtjahres für Männer und Frauen, also für alle, einen kompletten Ausbildungsjahrgang blockieren und nicht nur von den Hochschulen fernhalten, sondern überdies vom regulären Lehrstellenmarkt abziehen würde – ganz schlechte Idee!«
Oder auch nicht. In den Augen von Christian Huiskens ist die Idee nämlich grundsätzlich gut. »Sie macht Sinn, würde unser Sozialsystem stärken« und der Jugend neue Perspektiven eröffnen. Was das betrifft, weiß der 41-Jährige präzise, wovon er spricht.
Hat er doch selbst Zivildienst geleistet und sich dabei um pflegebedürftige Senioren gekümmert. Bettlägerigkeit und Geriatrie hautnah mitzuerleben, ist für ihn »eine wertvolle Erfahrung gewesen«. Außerdem habe es ihm ein positives Gefühl gegeben, »anderen helfen zu können«.
»Ich bin strikt gegen staatlich ausgeübten Zwang«
Lea Wegener möchte all dies nicht in Abrede stellen. Gleichwohl ist die 18-Jährige skeptisch. »Mir wäre es lieb, wenn alles so bliebe, wie es ist – freiwillig. Es gibt schließlich auch Schulabgänger, die genau wissen, was sie später beruflich machen wollen und deshalb keine Orientierungsphase benötigen.« Zu dieser Gruppe zählt sich die Stuttgarterin übrigens selbst. Sie möchte Bauingenieurin werden. Punkt.
Und sollte irgendwann doch ein verpflichtendes soziales Jahr eingeführt werden, dann »wünsche ich mir, dass es nicht auf Schulabgänger festgelegt wird, sondern flexibel handhabbar ist.« Konkret: »Man sollte den passenden Zeitpunkt selbst wählen können. Der muss doch nicht zwingend vor dem Studium oder der Ausbildung sein. Vielleicht hat man nach ein paar Berufsjahren Lust, mal etwas anderes zu machen. Vielleicht wird man arbeitslos und kann das Dienstjahr zur Überbrückung nutzten. Ich wäre für ein Zeitfenster; dafür dass man bis zur Vollendung des, sagen wir mal, vierzigsten Lebensjahres fürs Gemeinwohl im Einsatz gewesen sein sollte.« (GEA)