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Abenteuer auf dem Schulweg: So war's damals in Sondelfingen

Nostalgische Erinnerungen einer Sondelfinger Grundschülerin: Tornister, Schneeballschlachten und Schleck.

Am Sondelfinger Bahnhof lockte in den 1960er-Jahren ein Karamellbonbon-Automat. FOTOS: BÖHM
Am Sondelfinger Bahnhof lockte in den 1960er-Jahren ein Karamellbonbon-Automat. Foto: Gabriele Böhm
Am Sondelfinger Bahnhof lockte in den 1960er-Jahren ein Karamellbonbon-Automat.
Foto: Gabriele Böhm

REUTLINGEN-SONDELFINGEN. Während meiner Grundschulzeit in den 1960er-Jahren hatte noch kaum eine Familie ein Auto. Und wenn, dann fuhr der Vater damit zur Arbeit. Ich wohnte damals in der Efeusiedlung am Fuß der Achalm und musste zur gerade erbauten Mörikeschule. Den Weg dorthin, etwa 1,3 Kilometer, legte man mindestens zwölf Mal wöchentlich zurück, denn auch am Samstag war Unterricht.

Im Efeu gab es viele Familien mit Kindern, wir gingen also immer gemeinsam. Kaum jemand hatte ein Telefon, sodass wir auch von Haus zu Haus Nachrichten überbrachten oder den Lehrern Bescheid sagten, wenn Mitschüler krank waren und nicht kommen konnten.

Wir waren etwa eine halbe Stunde unterwegs und hatten mit Ledertornistern und etlichen Büchern einige Kilogramm auf dem Rücken. Deshalb schielten wir immer sehnsuchtsvoll zum sogenannten »Kleinen Bahnübergang« an der Bahnlinie Metzingen-Reutlingen. Er lag direkt vor unserer Schule und hätte eine erhebliche Abkürzung bedeutet. Aber diesen Bedarfsübergang durften wir Kinder nicht benutzen, weil man jede Schrankenöffnung extra mit einem kleinen Hebel anfordern musste.

Dann meldete sich via Lautsprecher der Wärter vom Sondelfinger Bahnhof und hörte genau hin, ob sich eine tiefe Erwachsenenstimme oder eine piepsige Kinderstimme meldete. Natürlich konnte niemand von ihm erwarten, die Schranken x-mal am Tag für uns Kinder zu öffnen. Gelegentlich begleitete uns mal ein Erwachsener, und dann konnten wir frustriert erleben, wie schnell die Schranken hochgingen und wie kurz der Schulweg hätte sein können.

Die schöne alte Linde, unter deren Blätterbaldachin früher Esparsetten blühten, spendet noch immer Schatten.
Die schöne alte Linde, unter deren Blätterbaldachin früher Esparsetten blühten, spendet noch immer Schatten. Foto: Gabriele Böhm
Die schöne alte Linde, unter deren Blätterbaldachin früher Esparsetten blühten, spendet noch immer Schatten.
Foto: Gabriele Böhm

Vom »Kleinen Bahnübergang« aus ging man Richtung Efeu zuerst durch wunderbare Wiesen. Alte Obstbäume standen dort, unter denen Vergissmeinnicht blühten. Damals wurde die Straße Am Heilbrunnen gerade gebaut, mitten durch aufgegebene Gütle, in denen man noch Beerensträucher oder Gemüse sah.

»Einmal allerdings platzte mir der Kragen«

Eines Tages kam das Gerücht auf, es solle eine Unterführung durch den Bahndamm gebaut werden. Wir warteten darauf sehnsüchtig – aber vergebens. Denn das Projekt wurde erst Jahrzehnte später verwirklicht.

Auf dem Hinweg zur Schule hatten wir es immer eilig, denn wir mussten rechtzeitig die Bahnlinie überqueren, legitim am Sondelfinger Bahnhof. Waren die Schranken nämlich unten, musste man lange warten und kam deshalb zu spät. Allerdings war es spannend, die riesigen schwarzen Dampfloks zu beobachten.

Leider kamen im Heimatkundeunterricht Dampflokomotiven nie dran. Stattdessen liefen wir mit der ganzen Klasse zu Fuß nach Reutlingen, lernten viel über die Marienkirche und die alten Stadttore, wichen der Straßenbahn aus und mussten, sobald wir wieder im ländlichen Bereich waren, heimische Pflanzen und Tiere auswendig hersagen.

Sorgte ehemals für Winterfreuden: der Bahndamm, der von Kindern als Schlittenbahn zweckentfremdet wurde.
Sorgte ehemals für Winterfreuden: der Bahndamm, der von Kindern als Schlittenbahn zweckentfremdet wurde. Foto: Gabriele Böhm
Sorgte ehemals für Winterfreuden: der Bahndamm, der von Kindern als Schlittenbahn zweckentfremdet wurde.
Foto: Gabriele Böhm

Aus Westfalen zugezogen, hatte ich anfangs so meine Schwierigkeiten mit dem Schwäbischen. Was waren »Grombiera« und »Bräschdlengg´sälz«? Meine beste Freundin war ein Mädchen aus Frankreich, das das Sprachproblem teilte. Wir bemühten uns redlich, zu verstehen, was die Schwaben meinen könnten. Einmal allerdings platzte mir der Kragen. Auf dem Schulhof war Betonpflaster verlegt, und in den Pausen durften wir wegen der Verletzungsgefahr nur gehen, aber nicht rennen. Das machte uns nach dem langen Sitzen im Unterricht schier verrückt, und wir rannten dann eben doch. Leider erwischte mich dabei mal ein älterer Schüler, eingesetzt als Spitzel. Er meldete es dem Aufsichtslehrer und überwachte auch gleich die Strafe. »Jonge, du tusch jetzt Babierle auflesa!«, befahl er mir. Ich fuhr herum und fauchte ihn an: »Ich bin doch kein Junge!!«

Während wir uns also auf dem Hinweg zur Schule beeilten, begannen auf dem Rückweg die Abenteuer. Wir schwätzten über Unterricht, Klassenarbeiten, Hausaufgaben, Mitschüler, Eltern, Geschwister, Ferien, Haustiere, Sport und was sonst noch alles so anlag. So lernten auch wir beiden »Neig’gschmeckta« schnell Schwäbisch. Und riskierten zusammen mit den anderen den »Mut-Sprung« über den Braikinbach neben der Schule.

»Im Winter hagelte es natürlich Schneebälle«

Im Winter hagelte es natürlich Schneebälle. Außerdem nutzten wir den Bahndamm zum Rutschen. Die robusten Ledertornister eigneten sich prima als Schlitten. Um die durchgeweichten Hefte kümmerten sich dann die Mütter …

Weiter ging’s zur Baustelle des im Werden begriffenen Hochhauses Hopfenburg, das allerdings lange nicht fertig wurde. Hier konnte man im Winter durch die vollgelaufenen und zugefrorenen Keller schlittern und im Sommer die Kronkorken von den Bierflaschen der Bauarbeiter sammeln. Sammelpunkte waren darauf, für die man Bilder von Tieren oder Autos bekam. Außerdem fand ich in der Baugrube meine ersten Fossilien, woraus eine lebenslange Leidenschaft entsprang.

Hier war einst der Bahnübergang, vor dessen Schranken man lange warten musste.
Hier war einst der Bahnübergang, vor dessen Schranken man lange warten musste. Foto: Gabriele Böhm
Hier war einst der Bahnübergang, vor dessen Schranken man lange warten musste.
Foto: Gabriele Böhm

Neben der Baustelle gab es auf der Ecke eine alte Linde. Im Frühjahr blühten neben ihr zauberhafte rosa Blüten. Unser Forscherdrang fand heraus, dass es sich um Esparsetten handelte. Nächste Station war der Sondelfinger Bahnhof mit seinem besonderen Duft nach Holz und einem knarrenden Fußboden. Viel Taschengeld verschwand dort im Automaten für Karamellbonbons.

Über die Bahnlinie ging es hoch zum Sparmarkt, einem Paradies an Süßigkeiten und mit immer neuen Attraktionen wie dem Vogelsammelalbum. Man konnte Tütchen mit Vogelbildern kaufen, die man dort einkleben sollte. Wir waren regelrecht süchtig danach. Am begehrtesten und seltensten war der Kakadu, den man teuer tauschen musste.

Nächste Station war ein Bauernhaus an der Ecke gegenüber, wo man klingeln und Eis kaufen konnte. In der Straße Im Efeu wartete die nächste Versuchung. Dort wohnte unsere Mitschülerin Karin. Ihre Eltern hatten einen Getränkehandel, der auch Eis im Angebot hatte. Fasziniert waren wir außerdem vom kleinen blauen Teich im Vorgarten.

Die Autorin des Artikels als stolze Abc-Schützin: Für Gabriele Böhm war der Schulweg mit Abenteuern gepflastert.
Die Autorin des Artikels als stolze Abc-Schützin: Für Gabriele Böhm war der Schulweg mit Abenteuern gepflastert. Foto: Gea
Die Autorin des Artikels als stolze Abc-Schützin: Für Gabriele Böhm war der Schulweg mit Abenteuern gepflastert.
Foto: Gea

Gegenüber wohnte ein netter Opa, der meistens im Garten arbeitete, wenn wir vorbeikamen. Und dann waren wir auch schon zu Hause. Wir zählten zu den »geburtenstarken Jahrgängen«. In der vierten Klasse wurden wir deshalb in die Alte Schule – dem heutigen Sitz von Bezirksamt und Bibliothekszweigstelle – ausquartiert, damit die Jüngeren es zur Schule, der Mörikeschule, nicht so weit hatten.

Den »Kleinen Bahnübergang« gibt es nicht mehr, und am Sondelfinger Bahnhof wurde ein Fußgängerüberweg gebaut. Die Stelle, wo wir über den Bach sprangen, ist unzugänglich überwuchert. Das Hochhaus Hopfenburg wurde dann doch noch fertig, und an der Ecke steht immer noch die alte Linde. Ein Schaumstoffhandel hat inzwischen den Sparmarkt ersetzt und ein Neubau das alte Bauernhaus gegenüber. Auch der Getränkehandel mit dem leckeren Eis musste weichen. (GEA)