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Aktuell Ukraine-Krieg

Walddorfschule Engstingen in Gedanken bei ukrainischer Partnerschule

Heike Mall (von links), Jakob Kostial und Christian Eichhorn kennen die Ukraine von Klassenfahrten der Freien Waldorfschule auf
Heike Mall (von links), Jakob Kostial und Christian Eichhorn kennen die Ukraine von Klassenfahrten der Freien Waldorfschule auf der Alb. Foto: Steffen Wurster
Heike Mall (von links), Jakob Kostial und Christian Eichhorn kennen die Ukraine von Klassenfahrten der Freien Waldorfschule auf der Alb.
Foto: Steffen Wurster

ENGSTINGEN. Klassenfahrten nach Frankreich oder Italien sind schön", weiß Christian Eichhorn, Lehrer an der Freien Waldorfschule auf der Alb in Engstingen, "aber eine Reise in die Ukraine ist ein Abenteuer." Seit 20 Jahren pflegen die Engstinger eine Partnerschaft mit der Waldorfschule in Dnipro in der Südostukraine. Von dort wurden gestern in den frühen Morgenstunden Explosionen gemeldet.

Der zweiwöchige Trip mit der Bahn über 2 400 Kilometer steht auf dem Programm der Zehntklässler. Untergebracht werden die Älbler über die Herbstferien bei Familien, der Kontakt ist eng, die Gastfreundschaft groß, lobt Jakob Kostial: »Ich hab’ das Bett bekommen, der Sohn schlief auf dem Teppich.« Kostial war zweimal am Dnjepr-Ufer, bei vier verschiedenen Gastfamilien und hat dort den Sommer 2019 verbracht, insgesamt wurden es zweieinhalb Monate.

Dnipro als Gemälde, der Dnjepr und die Uferpromenade dominieren das Stadtbild.
Dnipro als Gemälde, der Dnjepr und die Uferpromenade dominieren das Stadtbild. Foto: Schule
Dnipro als Gemälde, der Dnjepr und die Uferpromenade dominieren das Stadtbild.
Foto: Schule

Als die ersten Austauschschüler in die Ukraine reisten, war die Sowjetunion gerade einmal ein Jahrzehnt Geschichte, der neue Staat noch jung, auf der Suche nach der eigenen Identität. Nach Russland gab und gibt es zahlreiche Kontakte, familiär und wirtschaftlich. »Viele Ukrainer, egal welche Sprache sie zu Hause sprechen, arbeiten im reicheren Russland«, sagt Lehrer Eichhorn. Viele sind zweisprachig, in der Schule, an der Universität, am Arbeitsplatz wird ukrainisch gesprochen, zu Hause russisch.

An der Waldorfschule ist beides zu hören. Die Sprachen sind sich ähnlich, wie Deutsch und Holländisch, meint Heike Mall, Lehrerin für Russisch und Englisch. »Ukrainisch klingt ein bisschen nach Polnisch«, sagt Kostial – an der Waldorfschule ist einiges an Expertise zu finden.

Sowjettristesse ist noch zu finden.
Sowjettristesse ist noch zu finden.. Foto: Schule
Sowjettristesse ist noch zu finden..
Foto: Schule

Erst hat Corona, jetzt Putin den Austausch zwischen den Schulen verhindert. Die Lehrer Mall und Eichhorn hoffen, dass sich das wieder ändert: »Der Osten ist für Westeuropäer eine weiße Wissenslandkarte«, sagt Eichhorn, »wir haben den Eisernen Vorhang ein Stück weit gelüftet.«

Das Stadtbild von Dnipro wandelte sich im Lauf der Jahre. Zu Beginn sah es aus wie in der ehemaligen DDR nach dem Fall der Mauer. Mittlerweile sind in der Millionenstadt mit der längsten Uferpromenade Europas am kilometerbreiten Dnjepr die Stores von Lagerfeld und Gucci zu finden, neben verfallenden Plattenbauten aus Sowjetzeiten. Und die ukrainischen Schüler, die nach Engstingen kommen, kann man schon lange nicht mehr bereits auf den ersten Blick an der Kleidung unterscheiden. »Dasselbe Outfit, dieselbe Musik, dieselben Filme«, beschreibt Kostial die gemeinsamen Erfahrungen.

Mit den Unruhen auf dem Maidan in Kiew 2013 und 2014 und der russischen Besetzung der ukrainischen Krim hat sich das gewohnte Miteinander der Völker verändert. Nicht nur der Badeurlaub auf der Halbinsel im Schwarzen Meer findet seither nicht mehr statt. »Im Westen wird orange – westlich gewählt, im Osten blau – russisch«, sagt Eichhorn. Insgesamt sei die Ukraine mitteleuropäischer geworden, »zumindest empfinde ich das so«.

Der Wunsch, sich von Russland zu emanzipieren, sei aber schon in den 1990er-Jahren spürbar gewesen, erinnert sich Mall. An den Universitäten wurde jetzt auf Ukrainisch gelehrt, der Wunsch nach Eigenständigkeit war stark. Das Nationalitätenthema sei dann etwas in den Hintergrund gerückt, bis es 2013 wieder wichtiger wurde.

In der ehemaligen  Kirche ist jetzt ein Haus für Orgelkonzerte untergebracht.
In der ehemaligen Kirche ist jetzt ein Haus für Orgelkonzerte untergebracht. Foto: Schule
In der ehemaligen Kirche ist jetzt ein Haus für Orgelkonzerte untergebracht.
Foto: Schule

Für die Schüler waren die Reisen in den unruhigen Jahren der Maidan-Proteste »grandios für die politische Bildung«, erinnert sich Eichhorn, es waren Demonstranten und Soldaten auf der Straße und die Eltern knüpften an der Waldorfschule Tarnnetze. »Im privaten Kreis heißt es dagegen, ›reden wir nicht drüber‹«, sagt Mall. Sie ist überzeugt, dass der Konflikt von den Menschen nicht gewollt sei. Schon wegen der engen Beziehungen zum immer noch reicheren Nachbarn.

Die Kontakte in die Ukraine, die währende der Pandemie etwas eingeschlafen waren, werden jetzt über die sozialen Medien wieder belebt. Das Leben der Freunde muss unwirklich sein. Der Alltag geht weiter – das Leben ist hart genug –, in Kiew werden Partys gefeiert, hat Kostial erfahren. Und ihm ist bewusst: »Manche meiner Freunde liegen vielleicht im Schützengraben.«

Der Dnjepr prägt Dnipro.
Der Dnjepr prägt Dnipro. Foto: Schule
Der Dnjepr prägt Dnipro.
Foto: Schule

Lange Zeit hatten die Ukrainer auf eine friedliche Lösung gehofft, Anfang Februar habe sich das gedreht: »Ignorieren kann man den Konflikt nicht mehr«, hat Mall eine Brieffreundin geschrieben. (GEA)