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Tübingerin springt halbnackt aus Fenster: Haftstrafe für Vergewaltiger

Eine in Tübingen lebende Frau wird von einem Mann zum Oralsex gezwungen, springt danach halbnackt aus einem Fenster und wird auf der Straße verletzt von Passanten ignoriert. Der Angeklagte erzählt im Gericht eine ganz andere Geschichte.

Justitia
Eine Figur der blinden Justitia. Foto: Sonja Wurtscheid/DPA
Eine Figur der blinden Justitia.
Foto: Sonja Wurtscheid/DPA

HECHINGEN/TÜBINGEN. Wie groß muss die Verzweiflung gewesen sein, dass eine junge Frau aus einem Fenster in 6,80 Meter Höhe springt, um vor ihrem Peiniger zu fliehen? Sehr groß – zu diesem Schluss kam das Amtsgericht Hechingen und verurteilte einen 24-Jährigen wegen Vergewaltigung und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Haftstrafe. Besonders beschämend das Randgeschehen: Mehrere Passanten verweigerten dem Opfer ihre Hilfe. Die Wahrheitsfindung gestaltete sich schwierig, denn es stand Aussage gegen Aussage.

Der Angeklagte, ein schmächtiger Mann mit krausen Locken, der aus Guinea stammt, wird in Fußfesseln von zwei Polizisten in den Gerichtssaal gebracht. Er sitzt seit seiner Festnahme in der Hechinger Außenstelle der Rottweiler JVA in Untersuchungshaft. Der 24-Jährige spricht kaum Deutsch und nur gebrochen Englisch. Ein Dolmetscher übersetzt während der gesamten Verhandlung alle Wortbeiträge simultan ins Englische.

Tat ereignete sich im September

Laut Anklageschrift soll der Guineer, der zum Zeitpunkt der Tat in einem WG-Zimmer in Balingen lebte, am 19. September 2023, ein Treffen mit einer jungen Frau vereinbart haben, die er erst zwei Tage zuvor kennengelernt hatte. Das Treffen fand in Tübingen statt. Der Angeklagte habe die gleichaltrige Frau dazu gebracht, mit ihm nach Balingen zu fahren, weil es dort an diesem Tag auf der Gartenschau einen Fasnetstag gegeben hat, den man besuchen wollte.

In der Wohnung des Angeklagten soll es dann zu dem sexuellen Übergriff gekommen sein. Als der Angeklagte die Wohnung kurz verließ, um Essen zu holen, sprang die junge Frau, die im Zimmer eingeschlossen war, aus dem Fenster. Sie zog sich bei dem Sturz aus 6,80 Meter Höhe wie durch ein Wunder keine Kopfverletzungen, aber eine schwere Beinfraktur und weitere kleinere Verletzungen zu.

Angeklagter bestreitet die Vorwürfe

Der Angeklagte schüttelt bei der Verlesung der Anklageschrift immer wieder den Kopf. Er bestreitet in einer vorgelesenen Stellungnahme, dass er Zwang angewandt habe. Seine Version des verhängnisvollen Abends: Der Kontakt sei von Anfang an vertraulich gewesen, man habe sich in Tübingen einvernehmlich geküsst und sei nach der Zugfahrt händchenhaltend in seine Wohnung gelaufen.

Dort hätten sie ferngeschaut, seine Begleiterin sei fröhlich gewesen. Er habe nicht mit ihr schlafen wollen, weil sie ihre Tage hatte. Der Oralverkehr habe einvernehmlich stattgefunden. Er habe die Zimmertür abgeschlossen, weil sie das so gewünscht habe. Warum sie aus dem Fenster gesprungen sei, wisse er nicht. Er habe sie gesucht und sei mit dem Fahrrad zum Bahnhof gefahren.

Es sei alles freiwillig gewesen

Die anschließenden Fragen des Vorsitzenden Richters Ernst Wührl beantwortet er ausschweifend. Er erzählt, dass ihn seine Begleiterin in Tübingen in einem Bekleidungsstore darum gebeten habe, Kleidung für sie zu kaufen. Er habe ihr gesagt, dass er kein Geld habe. Was die Vorgänge in seiner Wohnung betrifft, habe die 24-Jährige ihr Kleid selbst ausgezogen und den Oralsex auf ihre Initiative freiwillig ausgeführt. »Ich wollte den Kebab holen, mit ihr essen und dann mit dem Zug wieder zurückfahren nach Tübingen«, so seine Schilderung.

Er geht selbst zur Polizei

Als er mit dem Rad zum Bahnhof gefahren sei, habe ihn die Polizei kontrolliert, weshalb er in Panik geraten sei: »Ich bin weggerannt.« Er ist dann später zum Polizeirevier gegangen und hat sich gestellt, was zur Festnahme geführt hat.

Gänzlich anders lauten die Schilderungen der Geschädigten, die seit 2023 in Deutschland lebt und als Freiwillige in einer Kita arbeitet. Sie lebt bei ihrer Gastmutter in Tübingen und spricht gut Englisch.

Sie erzählt mit schneller Stimme von der ersten Begegnung zwei Tage vor der Tat, als sie der Angeklagte auf der Neckarbrücke angesprochen hat. Er habe eine Beziehung mit ihr wollen, sie habe abgelehnt, ihm aber ihre Telefonnummer gegeben. Man habe dann vor dem zweiten Treffen am 16. September miteinander WhatsApp-Nachrichten ausgetauscht.

Sie hatte kein gutes Gefühl

»Ich hatte von Anfang an ein komisches Gefühl bei der Sache«, sagt die gebürtige Uganderin. Sie bestätigt, dass sie in Tübingen in einem Bekleidungsgeschäft und in einer Eisdiele waren. Er habe sie überredet, nach Balingen zu fahren, weil sie gerne auf die Karnevalveranstaltung wollte. Und er habe ihr versprochen, dass sie zum Abendessen wieder bei ihrer Gastmutter sein wird.

Sie schluchzt immer wieder in ihr Taschentuch, als sie von dem Übergriff im Zimmer des Angeklagten erzählt. »Wenn Du schreist, tue ich Dir was an«, habe er gesagt. Die junge Frau berichtet von einer panischen Angst, die sie in diesem Moment gehabt habe. Deshalb habe sie den Oralverkehr vollzogen. Danach habe sie gesagt, dass sie Hunger habe: »In der Hoffnung, dass er geht und ich fliehen kann.« Er habe sich in der Wohnung in einen anderen Menschen verwandelt.

Sie hatte furchtbare Angst

Als er das Zimmer verlassen habe, sei sie eingeschlossen gewesen. »Ich hatte furchtbare Angst und wollte nur noch raus«, erzählt sie mit stockender Stimme. Sie ist dann – nur mit ihrer Unterhose bekleidet – aus dem Fenster im zweiten Stock des Gebäudes gesprungen. Ihre Sachen habe sie zuvor hinunter geworfen; ihre Schuhe im Zimmer vergessen.

Laut ihrer Schilderung kam sie erst auf einem Eisengestell für Blumenkästen im ersten Stock auf und habe dort an der Wand hängend einen Passanten um Hilfe gebeten. Der sei einfach weitergegangen. Sie habe sich dann auf den Boden fallen lassen.

In Gaststätte abgewiesen

Nach dem Sturz, bei dem sie ihren Fuß gebrochen hat, habe sie sich angezogen und sei barfuß und hinkend zu einer Gaststätte gelaufen. Dort habe sie erneut um Hilfe gebeten und weinend gesagt, dass sie vergewaltigt worden sei. Man habe ihr geantwortet, das sei normal in Deutschland und man könne ihr nicht helfen.

Ein Paar hilft ihr schließlich

In der Fußgängerzone wandte sich die völlig verzweifelte Frau an ein Paar, das sich um sie kümmerte und die Polizei und den Notarzt verständigte. Nach der Behandlung im Krankenhaus wurde sie von ihrer Gastmutter abgeholt, die telefonisch von dem Paar über die Geschehnisse informiert worden war.

In der Fußgängerzone war es zu einem erneuten Zwischenfall gekommen: Ihr Peiniger radelte vorbei und sie schrie: »Das ist er.«

Frau leidet noch immer an der Folgen

Die Fraktur war so kompliziert, dass die 24-Jährige drei Monate auf Krücken angewiesen war. Sie hinkt noch immer leicht und hat Rückenschmerzen von den Krücken. Schlimmer aber, sagt sie, seien die seelischen Auswirkungen der Tat. »Ich habe Alpträume, kann nicht schlafen und habe mein Selbstbewusstsein verloren«, schildert sie dem Gericht, wie sie sich fühlt, wie sehr sie unter dem Vorfall leidet: »Ich kann nicht mehr so leben wie vorher.«

Richter Wührl insistiert mehrfach, warum sie überhaupt in die Wohnung mitgegangen ist, nachdem sie doch kein gutes Gefühl gehabt habe und keine Beziehung wollte. Die Faschingsfeier habe sie neugierig gemacht, antwortet die Zeugin. Und sie habe geglaubt, dass es nach Balingen nicht weit ist. »Das hat er so gesagt.« Ebenso habe er wiederholt versprochen, dass er ihr in der Wohnung »nichts mache«. Was die sexuelle Handlung gegen ihren Willen betrifft, habe er ihr gedroht, weshalb sie den Mund geöffnet habe.

Als Kind missbraucht

»Warum sind Sie nicht ausgestiegen im Zug, es gab vier Stopps von Tübingen nach Balingen?« , hakt der Verteidiger des Angeklagten nach. Ihre Antwort: »Er hat immer gesagt, dass wir gleich da sind und es der nächste Halt ist.« Ebenso wundert sich der Jurist, warum sie nicht ihre Gastmutter angerufen hat, in den Minuten, in denen sie alleine war. Es sei zu wenig Zeit gewesen, sagt sie. Der Verteidiger fragt noch, ob sie darüber sprechen will, dass sie als Kind von ihrer Stiefmutter missbraucht worden ist. Das sei richtig, sagt die Frau. Aber sie wisse seither, dass sie eine starke Frau sei und kämpfe dafür, dass Frauen nicht unterdrückt werden.

Das junge Paar, das ihr an jenem Abend als Einzige geholfen hat, sagt im Zeugenstand aus, dass die Uganderin völlig aufgelöst und verzweifelt um Hilfe gebeten habe. Sie habe ihnen erzählt, dass sie bereits mehrere Menschen angesprochen habe, aber keiner habe ihr geholfen.

Es geht oft laut zu im Viertel

Der junge Mann, der in der Wohnung unter dem Angeklagten lebt, bestätigt, dass er an jenem Abend einen Hilfeschrei gehört hat, nachdem sein Rolladen plötzlich heruntergegangen sei. Es tut ihm sichtlich leid, dass er nicht auf den Schrei reagiert hat: »Weil es bei uns im Viertel immer laut zugeht und es oft Geschrei und auch Gepöbel gibt.«

Die Gastmutter, die die Verhandlung verfolgt hat, wird vom Gericht spontan befragt. Sie erzählt, dass sie die junge Unganderin, die seit Juli 2023 in ihrem Haus lebt, an jenem Tag nicht gesehen hat, sie aber wusste, dass sie nachmittags auf einer Geburtstagsfeier ist. »I have been kidnapped« habe sie ihr bei ihrem Anruf gegen Abend mitgeteilt, aber nicht sagen können, wo sie ist. Die Gastmutter beschreibt ihre Mitbewohnerin als absolut zuverlässig, was die Arbeit in der Kita betrifft, was das Zeitgefühl betrifft, dürfe man jedoch keine europäischen Maßstäbe anlegen.

Ein guter Mensch

Ebenso bittet das Schöffengericht die anwesende ehrenamtliche Betreuerin des Angeklagten um eine kurze Stellungnahme. »Ich kann überhaupt nichts Schlechtes über ihn sagen«, betont sie. M. lebe seit drei Jahren in Deutschland. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, er befinde sich im Status der Duldung, habe bis zur Verhaftung gearbeitet und vom eigenen Geld leben können. »Er ist ein guter Mensch«, lautet ihr Urteil. Sie teilt noch mit, dass ihm sein Vermieter wegen der Verhaftung gekündigt hat und M.s Habseligkeiten bei ihr zwischengelagert sind.

Staatsanwältin hat keine Zweifel

»Der Tatvorwurf der Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung hat sich aus meiner Sicht vollumfänglich bestätigt«, stellt Staatsanwältin Elisa Graf in ihrem Plädoyer fest. Sie ist überzeugt: »Das Opfer hat nachvollziehbare Angaben gemacht, die die Zeugen bestätigt haben.« Die junge Frau sei bei ihrer Aussage sehr in die Tiefe gegangen: »Das sind Details, die man sich nicht ausdenken kann.«

Entscheidendes Indiz aber, dass die Geschichte so passiert ist, wie sie das Opfer geschildert hat, ist für die Anklägerin der Sprung aus dem Fenster: »Denn, wer sich dem aussetzt, hat furchtbare Angst.« Im Übrigen gebe es keinen Grund für eine Falschbelastung des Angeklagten. Eine Bewährung sei aufgrund der Schwere der Tat nicht möglich. Graf fordert eine Haftstrafe von drei Jahren und 8 Monaten.

Beschämend, was danach passierte

Die Verteidigerin der Nebenklage schließt sich den Ausführungen der Staatsanwältin an. »Ich finde es beschämend, was nach der Tat passiert ist«, sagt sie kopfschüttelnd. So etwas habe sie noch nie erlebt.

Für den Verteidiger des Angeklagten sind noch Fragen offen und auch Zweifel da. Ging es um Ware gegen Sex? Warum ist das Opfer mitgegangen? Warum hat es nicht telefoniert, als es allein war? Warum hat der Vergewaltiger beide Handys bei ihr gelassen, als er die Wohnung verlassen hat? Sein Appell an das Gericht: »Sie müssen den Angeklagten freisprechen, wenn es Zweifel an der Aussage des Opfers gibt.«

In seinem letzten Wort bekräftigt der Angeklagte erneut, dass er nichts erzwungen hat: »Alles war freiwillig.« Gott sei sein Zeuge.

Gericht verhängt Haftstrafe

Genau das aber glaubt ihm das Gericht nicht. Es verurteilt ihn, wie von der Anklägerin gefordert, zu einer Haftstrafe von 3 Jahren und 8 Monaten. In seiner Begründung führt der Vorsitzende aus, dass es ein relativ ungewöhnlicher Sachverhalt ist und die Wahrheitsfindung auch deshalb so schwierig sei, weil es sich bei dem Angeklagten und beim Opfer um Menschen eines komplett anderen Kulturkreises handelt.

»Das kann man nicht erfinden«

Entscheidendes Kriterium für das Gericht, dass das Opfer nicht lügt, seien dessen detailreichen Schilderungen: »Das kann man nicht erfinden.« Ebenso gebe es einen Fakt, der über allem stehe: »Die junge Frau springt aus dem Fenster.« Für eine Falschbelastung gebe es nur einen Grund: »Die Geschädigte ersinnt spontan einen Racheplan.« Es sei aber bar jeglicher Realität, dass sich jemand so etwas spontan ausdenke. Die Handlungsweise des Opfers an jenem Abend sei in gewisser Weise rational gewesen. »Es war tatsächlich das Richtige, was sie getan hat, um Schlimmeres zu verhindern, wenn er zurückgekommen wäre.«

Laut Wührl bewegt sich der Strafrahmen für den Strafvorwurf zwischen 2 und 15 Jahren. Mit 3 Jahren und 8 Monaten liege das Gericht im unteren Bereich." Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Auf Nachfrage sagt der Verteidiger, dass er nicht vor hat, Revision einzulegen. (ZAK)