KUSTERDINGEN/TÜBINGEN. Im Landkreis Tübingen hat das Erinnern an NS-Verbrechen einen hohen Stellenwert. Derzeit werden die Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Wankheim saniert. In diesem Zusammenhang und im Gedenken an die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 23. März 1933 verlieh der Landkreis Tübingen und der Verein Kulturgut den diesjährigen Lilli-Zapf-Preis.
Die Jury besteht aus Mitgliedern von Jugendvertretungen im Landkreis und Jugendguides. Sie haben beschlossen, mit den Preisgeldern 2023/23 Entwürfe für die Präsentation eines Gedenkbuches vor dem jüdischen Friedhof in Wankheim zu prämieren. Der seit 2002 verliehene Preis, benannt nach der für ihr kritisches Erinnern an NS-Verbrechen bekannte Heimatforscherin Lilli Zapf (1896–1982), ist mit tausend Euro dotiert, die der Landkreis stellt.
»Mit diesem Buch wollen wir Jüdinnen und Juden aus Tübingen und Wankheim, die Opfer des nationalsozialistischen Völkermords wurden, aus ihrer Anonymität herausholen«, so Kusterdingens Bürgermeister Jürgen Soltau, der auch an das »respektvolle und harmonische Zusammenleben zwischen Juden und Christen in der Wankheimer Dorfgemeinschaft« erinnerte. Michael Kashi, Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, wies auf die Bedeutung der Begräbnisstätte hin. Landrat Joachim Walter mahnte: »Je weniger Zeitzeugen es gibt, umso mehr sind wir auf die, von der öffentlichen Hand finanzierte wissenschaftliche Forschung angewiesen.«
Biografie der Shoah-Opfer
Das Buch, erarbeitet vom Kreisarchiv, soll biografische Angaben zu Menschen mit Bezug zu Tübingen enthalten, die Opfer der Shoah geworden sind. Das Team von Kreisarchivar Wolfgang Sannwald hat zu 55 Personen über zwei Jahre hinweg »neue zuverlässige Quellen der Erinnerungskultur« in deutschen, holländischen, tschechischen und polnischen Archiven erschlossen und durchforscht, und erarbeitet derzeit die Texte. Mitarbeiter erläuterten ihre Vorgehensweise und stellten Quellen exemplarisch vor.
Das Gedenkbuch soll am Eingang zum Friedhof ausgelegt werden. Es soll Möglichkeiten für spätere Ausarbeitungen bieten, witterungsbeständig, wohl in Spiralform gestaltet werden und für alle Besucher jederzeit und barrierefrei zugänglich sein, erläuterten Anna Pytlik und Linda Kreuzer aus der 13-köpfigen Jury. Der Dottinger Bildhauer Jochen Meyder überzeugte die Gruppe mit seinem Vorschlag eines Lesepults. »Damit schafft er einen Raum des Erinnerns, der Ruhe und des Gedenkens.«
Meyder freute sich, dass es junge Leute gibt, »die das Buch wieder öffnen, dass mit in meiner Jugend verschlossen war. Alles, was man damals über die NS-Zeit erfahren hat, lief so nebenher«, sagte der 1940 geborene ehemalige Kunsterzieher. Ein weiterer Entwurf von ihm kam auf den dritten Platz, dazwischen eine Arbeit des Nehrener Künstlers CHC Geiselhart, eine Holzskulptur mit Metallplatten für Namenschilder.
Den Preis spendet Meyder dem Verein Gedenkstätte Grafeneck. Dort ist er seit vielen Jahren aktiv und hat für dessen Dokumentationszentrum das bekannte Kunstprojekt mit 10 654 Terrakottafiguren geschaffen. Jede dieser Figuren steht für ein individuelles Schicksal der in der Gaskammer von Grafeneck ermordeten Menschen. (mey)