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Aktuell Tradition

Die Tübinger Stocherkähne gehen bald ins Wasser

Viel Lärche, mehr als 900 Edelstahlschrauben, rund 80 Stunden Arbeit - dann in etwa ist ein traditioneller Tübinger Stocherkahn bereit, ins Wasser gesetzt zu werden.

Der Zimmerer und Stocherkahnbauer Rudolf Raidt baut in seiner Werkstatt an einem traditionellen Stocherkahn. Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Der Zimmerer und Stocherkahnbauer Rudolf Raidt baut in seiner Werkstatt an einem traditionellen Stocherkahn.
Foto: Bernd Weißbrod/dpa

TÜBINGEN. Das erste Stocherkahnrennen in Tübingen hat eine studentische Verbindung im Jahr 1956 ausgerichtet - die »Tübinger Lichtenstein«. Der Stocherkahn der Verbindung hieß »Bluthund«. Das Boot ging mit sechs weiteren Kähnen von Verbindungen und Studentenkreisen in den Wettbewerb. Die »Lichtensteiner« gewannen damals zum ersten und zum letzten Mal, wie Matthias Leyk erzählt. Er selbst ist schon viele Jahre »Stocherer«, war bei einigen Stocherkahnrennen dabei und hat als Student in der Villa der Lichtensteiner gewohnt.

Der Zimmerer und Stocherkahnbauer Rudolf Raidt baut in seiner Werkstatt an einem traditionellen Stocherkahn, aufgenommen durch eine Schablone. Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Der Zimmerer und Stocherkahnbauer Rudolf Raidt baut in seiner Werkstatt an einem traditionellen Stocherkahn, aufgenommen durch eine Schablone.
Foto: Bernd Weißbrod/dpa

 Gebaut werden die heutigen Kähne von Rudolf Raidt in Tübingen seit 2007. »Es gibt weit und breit niemanden außer uns mit dieser Bauweise. Unsere Konkurrenz sitzt in Österreich. Die baut ähnliche Boote wie wir. Es gibt noch einen Bootsbauer in Frankreich, der aber sehr historisch korrekt baut, also sehr traditionell. Zum Beispiel verwendet der noch handgeschmiedete Nägel und dichtet mit Moos ab und schlägt die Bäume selber bei der richtigen Mondphase«, sagt Raidt. Vor 2007 kamen die Boote aus Taubergießen im Rheintal, danach hatte der österreichische Hersteller lange Zeit das Monopol, bis eben Raidt kam.

Zimmerer ist spezialisiert auf die Holzboote mit flachem Boden

Der Zimmerer, der bei gutem Wetter etwa in Sachen energetischer Dachsanierung unterwegs ist oder Terrassenüberdachungen baut, ist spezialisiert auf die Herstellung von Holzbooten mit flachem Boden. Traditionell sind solche Holzboote in vielen Gegenden beheimatet. Sie unterscheiden sich laut Raidt lediglich in einigen Details. Entlang des Rheins werden diese Boote Nachen genannt, entlang der Donau überwiegt die Bezeichnung Zille. Die Bezeichnung Stocherkahn bezieht sich auf die Art des Antriebs und wird sowohl in Tübingen als auch im Spreewald verwendet. Allesamt gehören sie zur Familie der Dreiborde. 

Laut dem Verein pro Stocherkahn gibt es in Tübingen derzeit rund 140 Stocherkähne, 35 davon haben eine gewerbliche Zulassung. Die meisten Kähne werden von privaten Kahngemeinschaften, Studentenwohnheimen, Fachschaften und den Studentenverbindungen betrieben. »In unserem Verein pro Stocherkahn gibt es einige Kollegen, die hauptamtlich Stocherkahn fahren, der Rest macht es nebenberuflich«, sagt Vereinssprecher Heinrich Griesenbach. Früher besaßen fast ausschließlich Studentenverbindungen Stocherkähne. 

Stocherkahnbau ist Winterarbeit

Warum baut Rudolf Raidt Stocherkähne? Von Haus aus sei er Zimmerer, er habe dann noch eine Zusatzqualifikation als Bootsbauer erlangt. Im Januar und Februar sei es schwierig, als Zimmerer draußen zu arbeiten. Der Stocherkahnbau sei so zu seiner Winterarbeit geworden, sein Unternehmen habe dadurch keinen saisonalen Leerlauf. »Ich möchte auf den Bau sicher nicht verzichten. Es ist eine tolle Winterarbeit. Wenn es draußen kalt und stürmisch ist, können wir in der Werkstatt als Zimmerleute schaffen. Das ist ein großer Luxus.« In Tübingen dürfe man ab Mitte März die Boote setzen. Für den Bau verwendet Raidt heimisches Holz. »Bei uns speziell ist es die Lärche, ein kleines bisschen Eiche ist dabei. Die Sitzbretter und Lehnen - eine Besonderheit in Tübingen - sind aus Fichte.« 

Der Zimmerer und Stocherkahnbauer Rudolf Raidt baut in seiner Werkstatt an einem traditionellen Stocherkahn. Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Der Zimmerer und Stocherkahnbauer Rudolf Raidt baut in seiner Werkstatt an einem traditionellen Stocherkahn.
Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Die Tübinger Holzgondeln sind laut Raidt zwischen 9 und 11 Meter lang, etwa 1,5 Meter breit. »Man darf mit maximal 18 Fahrgästen fahren. Die Bauzeit liegt bei etwa 80 Stunden pro Boot. Mit allem Drum und Dran.« Heimisches Holz sei ihm wichtig.  »Das ist dann entweder die Lärche oder die Douglasie. Ich brauche halt Holz, das verfügbar ist, das resistent gegen Fäulnis ist, das sich gut verarbeiten lässt, das bezahlbar ist«, erzählt Raidt. Neben viel Holz und Spachtelmasse sorgen mehr als 900 Edelstahlschrauben für Halt.

Kommunikativ und gesellig

Eine Besonderheit am Tübinger Stocherkahn ist laut Raidt, dass man sich gegenübersitzt. »Man kann so eigentlich jeden im Boot sehen, dadurch ist das sehr kommunikativ und gesellig. Bei anderen Booten zum Beispiel im Spreewald, da sitzt man immer in Fahrtrichtung oder genau dagegen. Da kann man sich einfach nicht unterhalten.« Bisher haben Raidt und seine Kollegen rund 170 Stocherkähne gebaut.

Der Zimmerer und Stocherkahnbauer Rudolf Raidt baut in seiner Werkstatt an einem traditionellen Stocherkahn. ( Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Der Zimmerer und Stocherkahnbauer Rudolf Raidt baut in seiner Werkstatt an einem traditionellen Stocherkahn. (
Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Lange Zeit war das Kahnfahren nur denjenigen erlaubt, die – wie vor allem die Tübinger Studentenverbindungen – eigene Stocherkähne besaßen. Dies sollte sich jedoch ändern, als der Bürger- und Verkehrsverein Tübingen in den 1980er-Jahren zum ersten Mal mit dem Angebot eines Stocherkahns auf Bestellung für jede und jeden eine Fahrt auf dem Neckar ermöglichte. Dadurch sei der Ansturm auf die Kahnfahrten immer größer geworden, erzählt Angelika Thieme vom Verein. Derzeit gebe es 123 Liegeplätze für die Kähne - davon würden 50 touristisch genutzt. »Die Anzahl der Liegeplätze wird nicht mehr erweitert.«  Auch dürfen im Gegensatz zu früher laut Thieme keine einzelnen Privatpersonen einen Liegeplatz haben, sondern sie müssten sich in Gemeinschaften zusammentun mit mindestens fünf Personen.  »Wenn man im Juli an einem Samstagnachmittag mit einem Kahn fahren möchte, sollte man jetzt buchen«, erzählt Thieme.

Zwei Kilometer lange Strecke

Seit 1956 wird in der Universitätsstadt mit wenigen Ausnahmen jährlich - und mit viel Gejohle - ein Stocherkahn-Rennen ausgetragen. Bei dem Spektakel versuchen die kostümierten Teams mit je acht Mitgliedern, ihre Gondel schnellstmöglich über die rund zwei Kilometer lange Strecke um die Neckarinsel zu bringen. Die Kommandos der Teams mischen sich mit den Rufen der Zuschauer. Bei dem Wettrennen geht es wenig zimperlich zu. Das Siegerteam gewinnt Bier, die Verlierer bekommen Lebertran. Ganz von Nachteil scheint eine Niederlage jedoch nicht zu sein. Denn das Verliererteam richtet das Rennen im Jahr darauf aus, stellt das Schiedsgericht und bestimmt die Höhe der Startgebühr. (dpa/lsw)